Süddeutsche Zeitung

Armut in Bayern:Sophia, bald drei, ist seit ihrer Geburt ein Sozialfall

Die Wirtschaft wächst, und zugleich wachsen immer mehr Kinder in Armut auf - wie Sophia mitten im reichen Erlangen. Ihrer Mutter bleiben am Monatsende zehn Euro übrig. Wenn sie Glück hat.

Von Karsten Fehr

Es ist diese eine Nacht, die ihr Leben für immer verändert hat. Sarah Keller hatte Sex mit einem Mann, mit dem es keine gemeinsame Zukunft gab. Keller (Name geändert) wurde schwanger, verlor ihren Job, bekam ihr Kind: eine Tochter, Sophia. Sarah Keller ist nun alleinerziehend, bezieht Hartz IV. Sie und Sophia sind arm.

Die Wirtschaft in Bayern wächst, die Kinderarmut allerdings auch: Im Freistaat leben heute im Vergleich zu 2011 mehr Kinder in Familien, die auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind. Das zeigt eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung. Besonders besorgniserregend: "Die Mehrheit armer Kinder wächst über einen langen Zeitraum in Armut auf", heißt es dort.

2015 lebten in Bayern 141 256 Kinder unter 18 Jahren in Familien, die Hartz-IV-Leistungen erhielten. Das waren fast 7200 mehr als noch 2011 und entsprach einem Anteil von 6,8 Prozent (2011: 6,4 Prozent). In Deutschland waren es knapp zwei Millionen Kinder. Die Quote im Bundesgebiet betrug 14,7 Prozent (2011: 14,3 Prozent). Damit leben im Freistaat im Vergleich zum Bundesdurchschnitt anteilig zwar deutlich weniger Kinder in Armut. Trotzdem verfolgt Antje Funcke, eine Autorin der Studie, die Entwicklung nicht ohne Sorge: "Dass in einem Bundesland wie Bayern, das wirtschaftlich wächst, die Kinderarmut zunimmt, sollte zumindest als Warnzeichen gewertet werden."

Die Staatsregierung sieht das nicht so - das Sozialministerium spricht von einem "moderaten Anstieg der Zahlen" und verweist auf die Wirtschaftskraft des Freistaats: Bayern sei solide aufgestellt, und nicht zuletzt wegen der guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt sei die Ausgangslage für Familien günstig, ließ Sozialministerin Emilia Müller auf Nachfrage verlauten.

Auf dem Spielplatz vor Sophias Zuhause lagen Spritzen von Heroinsüchtigen herum

Sophia bekam davon wenig mit. Sie wuchs zunächst in Bruck auf, einem armen Stadtteil mitten im reichen Erlangen. Wenn sie raus zum Spielen ging, dann waren die Scherben, auf die sie hätte treten können, nicht das größte Problem: Auf dem Spielplatz, direkt vor ihrem Zuhause, wurde gefixt. Die Spritzen der Heroinsüchtigen lagen überall herum. "Das ist nichts für Kinder", sagte ihre Mutter damals. Kurzzeitig hatte Sarah Keller, nun 31 Jahre alt, wieder einen Job: Sie putzte in einer Flüchtlings-Unterkunft. Doch mittlerweile ist die alleinerziehende Mutter wieder arbeitslos - unverschuldet.

Wie ihrer Tochter Sophia geht es vielen betroffenen Kindern: Für sie ist Armut ein Dauerzustand. Stimmen die Zahlen der Bertelsmann Stiftung, dann ist in Bayern fast die Hälfte der armen Kinder zwischen sieben und 14 Jahren mehr als drei Jahre auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. In ganz Deutschland sind es sogar mehr als 57 Prozent.

Antje Funcke findet diese Entwicklung "erschreckend": "Je länger ein Kind in Armut lebt, desto geringer sind seine Bildungs- und Teilhabechancen." Andauernde Armutserfahrungen würden sich besonders negativ auf die Entwicklung von Kindern auswirken. "In den Urlaub fahren oder einfach mal etwas unternehmen - auf das müssen diese Kinder oft verzichten."

So auch Sophia. Das Mädchen ernährt sich von Lebensmitteln, die seine Mutter von der "Gabentreppe", einem Hilfsprojekt für Bedürftige in Erlangen, besorgt. Sie trägt gebrauchte Kleider, die ihre Mutter günstig ersteigert. Sie lebt in einer Wohnung, deren Wände so dünn sind, dass man das Geschrei von nebenan hört. Die finanzielle Situation der Familie lässt nichts anderes zu. "Wenn ich Glück habe, bleiben mir am Monatsende zehn Euro übrig", sagt die Mutter.

Kinder wie Sophia, die nur bei einem Elternteil aufwachsen, sind besonders häufig arm - auch in Bayern. Sie machen etwa die Hälfte aller Kinder in Armut aus. Der Hauptgrund dafür ist laut Funcke: "Bei durchschnittlich drei von vier Alleinerziehenden kommt das Geld für die Kinder nicht oder nicht in der Höhe des Mindestanspruchs an." Zwar bestehe in diesem Fall Anspruch auf einen Unterhaltsvorschuss, allerdings werde dieser bislang nur für maximal sechs Jahre und bis zum zwölften Lebensjahr des jeweiligen Kindes gezahlt.

Es trifft allerdings nicht nur alleinerziehende Familien. Auch jene mit drei und mehr Kindern geraten oft in finanzielle Not: Gut ein Drittel aller armen Kinder in Bayern stammen der Studie zufolge aus einer solchen Familie. "Bei ihnen ist es in vielen Fällen - gerade wenn die Kinder noch jung sind - nicht möglich, dass beide Elternteile erwerbstätig sind", erklärt Funcke. Zudem erfolge der Wiedereinstieg der Eltern in den Beruf später. "Kinder stellen auch für diese Familien ein Armutsrisiko dar", sagt Funcke.

Die Kellers sind inzwischen umgezogen. Die Mutter hat es nicht mehr ausgehalten. Nun ist vieles anders: Hochhaus, fünfter Stock, 50 Quadratmeter, zweieinhalb Zimmer. Sophia, mittlerweile zwei Jahre alt, hat nun ein eigenes Zimmer. Die Mutter will ihr etwas bieten, selbst wenn sie dafür Schulden bei den eigenen Eltern machen muss. Sophia darf nun sogar zum ersten Mal in ihrem Leben richtig Urlaub machen - es geht nach Griechenland, mit dem Flieger. Für Sophia öffnet sich eine neue Welt. Sie ist auf einem guten Weg, viele andere arme Kinder nicht.

Kinderarmut - auch das zeigt die Studie - ist in Bayern sehr unterschiedlich verteilt: Zwischen den Städten und Landkreisen besteht eine zum Teil erhebliche Diskrepanz. So war 2015 in Hof, Nürnberg und Schweinfurt etwa jedes fünfte Kind arm, während der Anteil in Eichstätt, Pfaffenhofen an der Ilm und im Unterallgäu fast gegen null tendierte. "Die sozialen Unterschiede in den Städten sind größer", sagt Funcke. Woran das liegt, darüber kann sie nur spekulieren: "Leider gibt es sehr wenig Forschung zu Armut auf dem Land. Ich kann mir aber vorstellen, dass gerade in Bayern familiäre Netzwerke auf dem Land noch enger sind." Dies könne dazu führen, dass bedürftigen Familien dort einerseits eher geholfen wird. Andererseits sei es wohl so, dass diese dann kein Hartz IV beantragen, "da man so über die Runden kommen will oder sich zum Teil auch schämt".

Keller, das sagt sie offen, schämt sich nicht, Hilfe zu beantragen. "Nur wer wagt, gewinnt", lautet ihr Motto. Es gebe beileibe viele Leute, die einem helfen würden, wenn man nur frage. Etwa die Aktion "Freude für alle" in Nürnberg. Der Lohn für Sarah Kellers Mut: ein neues Bett für ihre Tochter. Im Oktober feiert Sophia ihren dritten Geburtstag. Dann hat sie drei Jahre in Armut verbracht.

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SZ vom 13.09.2016/ebri
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