Architektur:Ein neuer Atlas für Würzburg
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Ein neues Buch nähert sich der Stadt, ihrer Einwicklung und ihren Bewohnern im Verlauf der Jahrhunderte.
Von Anne Kostrzewa, Würzburg
In Heidingsfeld, dort wo sich die Bahngleise Richtung Norden treffen, um die Züge über den Main zum Hauptbahnhof zu leiten, liegt ein Stück Würzburger Stadtgeschichte begraben. Heute erinnert nur noch der Straßenname Bauernpfad daran, dass eine gleichnamige Siedlung dort bis in die Siebzigerjahre hinein 20 Würzburger Familien beherbergte. "Seit ihrer Entstehung in der NS-Zeit wurde die Bauernpfadkolonie medial ausgeklammert", sagt Jan Speth. "Bis zu ihrem Abriss gab es kaum Aufzeichnungen darüber - bis jetzt." Für seine Masterarbeit hat der Geograf den gemeinnützigen Wohnungsbau in Würzburg erforscht. Dabei stieß er auch auf die Bauernpfadkolonie, von deren Existenz heute kaum noch ein Würzburger weiß.
"Die Nationalsozialisten haben die Siedlung seit ihrem Bau als Quartier der Querulanten dargestellt", sagt Speth. Die "Würzburger Chronik" aus dem Jahr 1936 beschreibt die Bewohner im Bauernpfad als "asoziale, konfliktträchtige Familien", ein Aufseher sollte im Viertel gegebenenfalls im Sinne der Naziideologie "erzieherisch tätig" werden. Auch nach Kriegsende wurden die lieblos grauen, einstöckigen Baracken kaum beworben oder saniert. Mitte der Siebzigerjahre rollten die Planierraupen an, um auf dem unliebsamen Gelände einen Neuanfang einzuläuten.
Ganz anders erging es der benachbarten Lehmgrubensiedlung, ebenfalls in den Dreißigerjahren errichtet und nur wenige Meter vom Bauernpfad entfernt. "Die Siedlung wurde von den Nationalsozialisten ausgebaut und als beispielhaftes Wohnquartier für Propagandazwecke missbraucht", sagt Speth. Längst hat sich das Viertel von seiner braunen Prominenz erholt. Heute ist es eine gemütliche Wohnsiedlung mit guter Anbindung an die A 3, in dem allenfalls der Verkehrslärm für Missstimmung sorgt.
Seine Ergebnisse hat Jan Speth in den kürzlich erschienenen "Atlas Würzburg" eingebracht. 71 Autoren durchleuchten darin mit detaillierten Karten und kompakten Texten die, laut Atlas, älteste Stadt Frankens, von den historischen Anfängen bis in die Gegenwart. Das 240 Seiten umfassende Lesebuch darf sich zu Recht das neue Standardwerk Würzburgs nennen, erhebt aber bewusst keinen Anspruch auf Vollständigkeit. "Es ist keine Enzyklopädie, sondern der Versuch, mit ausgewählten Schwerpunkten einen bunten und vielseitigen Blick auf unsere Stadt zu werfen", sagt Barbara Hahn. Sie ist die Initiatorin und eine der Herausgeberinnen des Atlas.
Um ihrer Stadt näherzukommen, musste die Lehrstuhlinhaberin für Wirtschaftsgeografie der Uni Würzburg ziemlich viel herumreisen. "Anfangs hatte ich Bedenken, ob wir genug Stoff zusammenbekommen", sagt Hahn. "Am Ende war ich froh, das ganze tolle Material unterzukriegen." Vier Jahre durchforstete sie Archive, sprach mehrfach beim Bayerischen Vermessungsamt in München vor, traf Heimatforscher, Denkmalpfleger, Vertreter der Stadtverwaltung. Auch viele Experten der Uni haben ihre Schwerpunkte eingebracht. Oberbürgermeister Christian Schuchardt verfasste das Vorwort.
Den größten Boom hat der gemeinnützige Wohnungsbau zwischen den beiden Weltkriegen erlebt
Für Jan Speth war der Atlas eine Gelegenheit, seine Nachforschungen zur städtischen Architektur mit den Würzburgern zu teilen. "Ich bin in meinem Studium oft an den kleinen Häusern der städtischen Siedlungen vorbeigefahren", erinnert er sich. "Wenn ich Würzburger nach den Geschichten dieser Blöcke gefragt habe, wusste aber keiner Genaueres." Also bohrte er selbst nach. "Den größten Boom hat der gemeinnützige Wohnungsbau zwischen den beiden Weltkriegen erlebt", sagt Speth. Kriegsversehrte, Arbeits- und Mittellose brauchten in der zerstörten Stadt neue Wohnungen, überall in Würzburg entstanden neue Siedlungen.
"Besonders spannend zu entdecken war der Wandel, den diese Quartiere erlebt haben", sagt Speth. Der Dencklerblock in der Zellerau etwa, gegenüber der Altstadt am anderen Main-Ufer gelegen. "Wo früher Soldaten wohnten, alles adrett und aufgeräumt war, leben heute junge Alternative, das ist fast wie eine Kommune." Noch immer werde dort mit Holz geheizt, dafür seien die Mieten bezahlbar - und das Viertel auch für Studenten und Künstler interessant. Andere Sozialbausiedlungen, etwa die Gartenstadt, gelten heute als exklusive Wohnlage.
Auch in der Architektur selbst konnte Jan Speth bei seiner Forschung einen Wandel ausmachen, der gerade Großstädtern in Bayern bekannt vorkommen dürfte. "Die ersten Siedlungen sollten für ihre Bewohner besonders angenehm sein, sie bekamen Hühner, Hasen oder einen Obstbaum geschenkt und neben den kleine Häuschen wurden Gärten angelegt", sagt Speth. "Später ging es dann nur noch um die Frage: Wie pfercht man möglichst viele Leute in ein Gebäude?"
Barbara Hahn, Roland Baumhauer, Dorothea Wiktorin und die Stadt Würzburg (Hrsg.): Atlas Würzburg. Vielfalt und Wandel der Stadt im Kartenbild. Emons Verlag GmbH, 2016. 240 Seiten. 49,95 Euro.