Arbeiterwohlfahrt:Ein Jahrhundert Kampf für die Schwachen

Lesezeit: 2 min

1920 wurde die Arbeiterwohlfahrt zur Linderung des Elends nach dem Ersten Weltkrieg auch in Bayern aktiv - und sie gibt sich immer noch politisch

Von Dietrich Mittler, München

Die Arbeiterwohlfahrt in Bayern ist nicht leise - sie war es nie. "Testen, wo es nützt und schützt, statt chaotischer Massenuntersuchungen", so hatte Thomas Beyer, Chef des AWO-Landesverbands, kürzlich die Corona-Teststrategie der Staatsregierung gerüffelt. Vor 100 Jahren, als in Nürnberg der erste Ortsverein der Arbeiterwohlfahrt in Bayern gegründet wurde, traten deren Wortführer nicht weniger entschieden auf. Wie auch - angesichts der Not, unter der die Arbeiterschaft nach dem Ersten Weltkrieg litt. Und, was das Elend damals verstärkte: die Spanische Grippe, die weltweit schätzungsweise bis zu 50 Millionen Menschen dahinraffte.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nun, hundert Jahre später, erneut eine Pandemie tief ins Leben der Menschen einschneidet - wenn zum Glück auch nicht mit so entsetzlich vielen Todesopfern wie im Zuge der Spanischen Grippe. Deren Folgen hatten in Deutschland zur Gründung der Arbeiterwohlfahrt beigetragen, wie der Historiker Hermann Rumschöttel am Mittwoch im Münchner Presseclub ausführte. "Sie war mit ein Grund, warum sich die Arbeiterbewegung verstärkt der Wohlfahrtsarbeit widmete", sagte der frühere Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns. Anlass der Veranstaltung: 100 Jahre AWO in Bayern und hierzu die Präsentation eines Buches, herausgegeben von Rumschöttel und AWO-Chef Beyer.

Bereits der Titel des 366-Seiten-Werks räumt mit der Vermutung auf, hier handele es sich in erster Linie um einen Gedenkband. Der Bayerischen Verfassung entlehnt, steht auf dem Buchdeckel "Bayern ist ein Sozialstaat". Natürlich trage die Vergangenheit dazu bei, dass der Blick auf Gegenwart und Zukunft "plastischer" ausfalle, so Rumschöttel und Beyer. In diesem Buch hätten nun mehr als 20 Autorinnen und Autoren auch versucht, auf aktuelle und künftige Fragen Antworten zu finden. Als da etwa sind: die Corona-Pandemie, bezahlbarer Wohnraum, die Integration von Menschen mit psychischen Belastungen, das oft verdrängte Pflege-Problem und die Sorgen, mit denen auch im reichen Bayern sozial schwache Familien zurechtkommen müssen. Kurzum, es geht darum, welchen Herausforderungen sich die AWO - und mit ihr die gesamte Wohlfahrtspflege - jetzt und in Zukunft stellen muss.

Für Beyer ist das die Gelegenheit, klar darzulegen, was den Kern der AWO ausmacht. "Wir haben einen sozialpolitischen Auftrag", sagt er, "und wir sind keine reinen Dienstleister, keine staatlichen Erfüllungsgehilfen. Wir haben unsere eigenen Positionen." Das hätte vor 100 Jahren auch der Nürnberger Kommunalpolitiker und Sozialdemokrat Martin Bächer als einer der Gründungsväter des Vereins Arbeiterwohlfahrt Nürnberg so formulieren können. Ging es doch darum, aus den Reihen der Arbeiterschaft eine Selbsthilfeorganisation aufzubauen, die Einfluss auf die bestehende Wohlfahrtspflege nehmen kann.

Über die AWO-Gründerin Marie Juchacz hinaus spielten Frauen in diesem Kampf von Anfang an eine zentrale Rolle. "Die Geschichte der AWO ist auch eine Geschichte der Frauen in diesem Land", sagt Beyer. Erklärtes Ziel war es, die Rechte der Armen zu vertreten - auf Augenhöhe mit den Mächtigen. Kurzum, es ging um die Mitgestaltung der Sozialgesetzgebung.

Obwohl dieses Ziel noch heute gilt, die AWO hat sich verändert. Auch sie wurde als Antwort auf die soziale Not zum Anbieter von sozialen Leistungen. Zum Angebotsspektrum gehören längst Altenpflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten, Therapiezentren, Wohnheime, Schuldnerberatungsstellen, die Obdachlosenhilfe und vieles mehr. Zudem ist die einst allein auf das Ehrenamt ausgerichtete AWO heute hochprofessionell aufgestellt. "Ich hoffe sehr, dass die AWO nie ihren politischen Charakter verliert", sagt Beyer. Bislang aber sieht es nicht danach aus.

© SZ vom 10.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: