Süddeutsche Zeitung

Jahresbericht:Antisemitismus als "grässliche Normalität"

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Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Bayern registrierte im vergangenen Jahr 422 Vorfälle gegen Juden.

In Bayern sind im vergangenen Jahr 422 antisemitische Vorfälle registriert worden, 34 weniger als 2021. Experten gehen jedoch von einem enormen Dunkelfeld von Vorkommnissen aus, die nicht bekannt wurden. "Antisemitismus zeigte sich 2022 in Bayern weiterhin als relativ niedrigschwelliges Alltagsphänomen, das heißt als eine grässliche gesellschaftliche Normalität", sagte die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Bayern, Annette Seidel-Arpaci, am Montag in München bei der Vorstellung des Jahresberichts.

Dieser führt auch Ereignisse auf, die keinen Straftatbestand erfüllen. "Auf das Jahr umgerechnet hat sich an mehr als jedem Tag in 2022 in unterschiedlicher Ausprägung Hass und Gewalt auf jüdisches Leben entladen", beurteilte der Vorstand der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland die Zahlen. "Das ist umso mehr erschreckend, weil auch die Hemmschwellen immer niedriger werden."

In der Hälfte der Vorkommnisse konnte die Meldestelle keinen politisch-weltanschaulichen Hintergrund erkennen. Bei den Fällen mit einem bestimmbaren politischen Hintergrund stehe an erster Stelle das verschwörungsideologische Milieu, wobei hier die Abgrenzung zum Rechtsextremismus oft schwierig sei. Sehr häufig wird Antisemitismus dem Bericht zufolge im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Schoah ausgelebt. Verschiedene politische oder gesellschaftliche Gruppen eine ein "jeweils unterschiedlich begründeter Schlussstrichwunsch". "Es steht zu befürchten, dass diese Schlussstrichmentalität von rechts bis akademisch-progressiv zukünftig noch weiter zunehmen wird - ist sie doch Anfang und Ende aller Bemühungen, sich letztlich einer eingebildeten besonderen Stellung von Juden zu entledigen", sagte Seidel-Arpaci.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zeigte sich besorgt. Die Zahlen seien weiter auf dem hohen Niveau vergangener Jahre. "Das, was die RIAS Bayern als ,relativ niedrigschwelliges Alltagsphänomen' technisch richtig beschreibt, treibt mich in hohem Maße um", sagte Schuster. "Es zeigt eine Geisteshaltung, die, ohne in den strafrechtlichen Bereich zu rutschen, jüdisches Leben nicht zu Deutschland zählt. Dagegen gilt es sich jeden Tag einzusetzen!"

Als gravierendsten Vorfall nennt der Bericht das Geschehen in der Silvesternacht zum 1. Januar 2023, als ein mutmaßlicher Täter versucht haben soll, die ehemalige Synagoge im oberfränkischen Ermreuth in Brand zu setzen. Das sei der erste Fall extremer Gewalt, der seit 2019 bekannt geworden sei, heißt es im RIAS-Jahresbericht. Die meisten antisemitischen Äußerungen und Darstellungen fielen RIAS zufolge bei verschwörungsideologischen Protesten. Deren Zahl stieg 2022 auf 161, im Jahr zuvor waren es 119.

Den größten Teil machte laut RIAS verletzendes Verhalten aus mit 350 Fällen, oft unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. Gemeldet wurden auch drei Angriffe, 13 Bedrohungen und 30 gezielte Sachbeschädigungen, die sich gegen Zeichen oder Orte zum Gedenken richteten. 17 Vorkommnisse gab es anlässlich des 50. Jahrestags des Attentats auf israelische Sportler bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München, etwa einen Hitlergruß oder antisemitische Leserbriefe in Zeitungen.

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