Anhörung ehemaliger bayerischer Heimkinder:"Was mit uns gemacht worden ist, das wünscht man keinem"

Sie wurden geschlagen, im Keller eingesperrt und mussten Erbrochenes essen: 80 ehemalige Heimkinder berichten im bayerischen Landtag von ihrem Martyrium. Sie werfen den Behörden vor, versagt zu haben, Hilfe aus der Politik lasse noch immer auf sich warten.

Dietrich Mittler

Die Anhörung von ehemaligen Heimkindern im bayerischen Landtag hat am Dienstagmorgen noch gar nicht begonnen, da unterbricht eine Frauenstimme das Gemurmel im alten Senatssaal. "Wir wollen endlich für voll genommen werden, wir lassen uns nicht länger an der Nase herumführen." Es ist die Stimme von Marie-Louise Weinhold aus Oberstdorf, die demnächst 70 Jahre alt wird. Als sie als Vollwaise ins Heim kam, war sie drei Jahre alt.

"Wir wurden von Anfang an terrorisiert", sagt sie so laut, dass es niemand überhören kann, "wir wurden geschlagen, wir wurden in den Keller eingesperrt, wenn wir das Bett nass gemacht haben, und wir mussten Erbrochenes aufessen." Wenn sie ihre Hausaufgaben nicht habe lösen können, dann habe man ihr auf die Ohren geschlagen, deswegen braucht die 69-Jährige heute ein Hörgerät. War ein Kind krank, so sei der Arzt erst geholt worden, wenn die blauen Flecken verschwunden waren. "Was mit uns gemacht worden ist, das wünscht man keinem", sagt Weinhold.

Viele um sie herum nicken - 80 Betroffene sind in den Landtag gekommen, um an diesem Tag endlich Gehör zu finden. Auslöser der Veranstaltung, so sagt Brigitte Meyer (FDP), die Vorsitzende des Sozialausschusses, seien zwei Petitionen. Auch in bayerischen Heimen sei es von 1949 bis 1975 zu eklatanten Rechtsverstößen gekommen, und fraktionsübergreifend sei klar, dass diese Übergriffe endlich aufgearbeitet werden müssten.

Dem 79-jährigen Richard Sucker aus Nürnberg, der als uneheliches Kind geboren wurde und in verschiedenen Heimen gelebt hat, treiben Meyers Worte die Zornesröte ins Gesicht. "Vor vier Jahren schon habe ich meine Petition eingegeben, und heute erst ist die erste Anhörung", sagt er. "Wenn ich gewusst hätte, wie lange das hier beim Landtag dauert, hätte ich gleich geklagt." Er frage sich, ob der Landtag wirklich so viel Arbeit habe - oder ob das Gleichgültigkeit sei.

"Das Land Bayern hat einen großen Anteil an den damaligen Erziehungsheimen und hat sich dieser Aufarbeitung zu stellen und anzunehmen", heißt es in Suckers Petition. Die Behörden seien damals ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen, sie hätten "versagt". Noch nach Jahrzehnten würden die einstigen Heimkinder unter den Misshandlungen leiden.

Die Liste an Demütigungen, die Sucker aufführt, ist lang. Er schreibt von Schlägen mit Fäusten und Gegenständen, sexuellen Übergriffen, Bestrafung bei unerlaubtem Lachen, erzwungener Arbeit und entwürdigenden medizinischen Untersuchungen bei den Mädchen auf dem gynäkologischen Stuhl. Die Petition - sie ist eine einzige Anklageschrift.

"Unschuldig von der Kirche eingesperrt"

Eine Aufarbeitung des Geschehenen sei schier unmöglich, sagt Sucker. Die Herausgabe von Heim-Akten werde mit Hinweis auf die Verjährungsfrist verweigert. Und von den Schwestern, die eines der Heime betreiben, in denen Sucker zeitweise untergebracht war, habe er lediglich zu hören bekommen: "Wir hatten einen Erziehungsauftrag." Sucker sagt, er sei mehr als 17 Jahre lang "unschuldig von der Kirche eingesperrt worden".

Das schlimmste Heim sei das der Rummelsberger Anstalten in Naila bei Hof gewesen, wo er die Jahre von 1946 bis 1952 verbracht habe. "Bei jeder Nichtigkeit gab es Prügel, wenn beim Schuhappell etwa Nägel an der Schuhsohle fehlten, dann gab es so viele Schläge, wie Nägel fehlten", sagt Sucker, "Kopf zwischen die Beine geklemmt, Füße untern Stuhl, und dann drauf auf den nackten Hintern."

Der Berliner Sozialpädagoge und Universitätsprofessor Manfred Kappeler, der sich intensiv mit dem Leid der Heimkinder im Nachkriegsdeutschland auseinandergesetzt hat, bringt die Schilderungen der Betroffenen auf eine politische Formel: "Diese Kinder und Jugendlichen wurden zu Ausgelieferten. Sie hatten keine Chance, sich zu wehren." Applaus brandet auf, als er ausruft: "Und es gab keine Instanz, keine Person, die ihnen zugehört oder gar geglaubt hätte."

Kurz nach diesen Worten flüchtet ein weißhaariger Mann mit Tränen in den Augen vor die Tür. "Es kommt alles wieder hoch, es kommt alles wieder hoch", stammelt er. Er ist nicht der Einzige, der es während Kappelers Vortrag nicht mehr aushält. "Wer hat uns Kindern denn geglaubt? Keiner!", sagt ein Mann Mitte Sechzig, der für die Anhörung seinen besten Anzug aus dem Schrank geholt hat.

Psychotherapeut Kappeler setzt unterdessen seine Anklage fort: Die Heimträger hätten die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen durch Zwangsarbeit ausgebeutet. Dadurch seien in hohem Umfang Personalkosten eingespart worden - mehrstellige Milliardenbeträge auf Kosten der Schulbildung. Diese Ausbeutung sei die Hauptursache dafür, dass ein erheblicher Teil der Heimkinder keinen Schulabschluss habe. Nur ein Prozent der ehemaligen Heimkinder, so zitierte Kappeler aus einer Studie, habe eine weiterführende Schule besucht. Auch deren hohe Altersarmut erkläre sich so. Hier müsse endlich entschädigt werden - und das angemessen. Bayern, so fordert Kappeler, müsse sich im Bund dafür einsetzen, dass "das leidige Thema endlich vom Tisch" komme.

Dagegen klingt die von den Fraktionen einhellig vereinbarte Erklärung relativ harmlos. Das sei der Beginn eines Dialogs, heißt es. Und: Man bedauere "die Geschehnisse in den Kinderheimen und die damit verbundenen, teilweise lebenslangen Folgen für die Betroffenen zutiefst". Bei den Anwesenden weckt das Wut. Verbittert sind viele auch darüber, dass ihre Anhörung nicht öffentlich ist. So sagt die 61-jährige Hildegard Edwards aus Augsburg, die als 15-Jährige in ein Heim bei Schweinfurt gesteckt wurde: "Wer aufgemuckt hat, den steckten die Nonnen in eine Zelle ohne sanitäre Anlagen." Doch die Zeit des Schweigens und Sich-Duckens sei vorbei. "Ich will Gerechtigkeit", sagt sie.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: