Angriffe auf Zugbegleiter:Vorsicht bei der Abfahrt

Sie werden bespuckt, getreten, geschlagen oder als "fettes Schwein" beschimpft: Die Zugbegleiter der Bahn bekommen den Ärger der Kunden hautnah mit. Vor allem in der 1. Klasse.

Olaf Przybilla

Dass sie Zugbegleiterin werden würde, wusste Carmen Niedermaier schon, als sie noch zur Schule ging. Wobei das nicht ganz korrekt ist: Zugchefin wollte sie werden, das ist die Person, die am Mikrophon auf Verspätungen hinweist und die Verantwortung trägt für die anderen Kontrolleure im Zug. Die Nürnbergerin hat sich ihren Traum erfüllt, aber lange dauerte er nicht. Vor zwölf Wochen hat die 28-Jährige zum letzten Mal auf Störungen im Fernverkehr hingewiesen.

DB AG Lokfuehrerstreik

Damit es nicht noch mehr Verspätung gibt, verzichten viele Zugbegleiter darauf, die Bundespolizei zu rufen - selbst wenn sie misshandelt werden. Am aggressivsten sind oft die Passagiere in der 1. Klasse.

(Foto: seyboldtpress.de)

"Und ich bin gottfroh darüber", sagt sie. Auf der Strecke von Nürnberg über Augsburg nach München hatte ihr ein Fahrgast einen Faustschlag ins Gesicht versetzt und ihr dann in den Unterleib getreten. Niedermaier wollte den Fahrgast gerade zur Rede stellen, warum er ins Zugabteil uriniert habe.

Neben Niedermaier steht Jonas Berg. Er ist genauso alt wie sie, aber er ist noch Zugchef in Bayern. Getreten hat ihn im Zug noch niemand, die Beschimpfungen aber im Abteil, denen er sich Tag für Tag ausgesetzt sieht, machen auch ihn mürbe. Bergs Vater war schon Schaffner, er wollte das auch werden. Schon deshalb, weil der Vater immer so gut redete von seinem Job.

Einem Schaffner werde ähnlich viel Respekt zuteil wie einem Dorfbürgermeister, erzählte der Vater. Heute, sagt sein Sohn, erlebe er Situationen, da "rangieren wir kurz über dem Zugmülleimer". In der 1. Klasse, so hat es Carmen Niedermaier erlebt, waren die verbalen Attacken oft am schlimmsten. "Da denken sie offenbar, mit der Fahrkarte kaufen sie gleich das Zugpersonal mit." Ein Gast hat ihr mal ins Gesicht gespuckt. Im Disput zuvor hatte er sich als "Fernsehjournalist" zu erkennen gegeben.

Carmen Niedermaier und Jonas Berg erzählen ihre Geschichte unter falschem Namen. Beide sind bei der Bahn angestellt, und die, sagt Frank Hauenstein von der Gewerkschaft Transnet, sehe es gar nicht gern, wenn sich Mitarbeiter über Gewalt im Zug äußerten - selbst dann nicht, wenn die eigenen Leute von dieser Gewalt betroffen sind. Hauenstein betreut bei Transnet die betroffenen Bahnmitarbeiter in Bayern. Dass Zugbegleiter "getreten, bespuckt, an den Haaren gezogen" werden, das sei "praktisch schon an der Tagesordnung", berichtet er. Ähnlich erschreckend aber findet er die Informationspolitik der Bahn: "Die müssten das doch viel mehr publik machen, um die vernünftigen Fahrgäste zu sensibilisieren", schimpft Hauenstein.

Wer wissen will, wie viele Schaffner in Bayern zuletzt Opfer von Gewalt wurden, wird bei der Deutschen Bahn in München nicht fündig. "Zu versprengt" seien diese Fälle, in einer Liste werden sie nicht archiviert. Man muss sich die Fälle also zusammensuchen. Nach Zahlen der einzelnen Bundespolizei-Inspektionen im Freistaat verging im ersten Halbjahr 2010 keine Woche, in der nicht drei Bahnmitarbeiter in Bayern Opfer von Gewalt wurden - ein Zuwachs von 20 Prozent, erklärt die Polizei.

Die Fälle allein der vergangenen Monate sind zum Teil schockierend:

Im Kreis Lichtenfels wird ein Schaffner an einem Bahnhof aus dem Abteil getreten, er fällt die Stufen des Waggons hinunter. Der Schaffner hatte die Täter, zwei 15 und 18 Jahre alte Jugendliche, dabei erwischt, wie sie ohne Fahrschein fuhren. Als der Schaffner am Boden liegt, kommen die Jugendlichen noch einmal zurück und schlagen ihm ins Gesicht.

Im Kreis Erlangen wird eine Zugbegleiterin kurz vor Mitternacht von hinten auf den Kopf geschlagen. Der Lokführer eines einfahrenden Zuges entdeckt die Frau bewusstlos am Bahnsteig. Die Schaffnerin wird ins Krankenhaus gebracht, vom Täter fehlt jede Spur.

Bei Aschaffenburg beschimpft ein Mann ohne Fahrschein den Schaffner als "fettes Schwein", er schlägt ihm ins Gesicht, die Brille geht zu Bruch.

Im Nürnberger Land prügeln fünf Männer den Lokführer von hinten nieder, weil der sich beschwert hat, dass die Männer die Zugtür offenhalten.

Bei Miltenberg schaut ein Schaffner in den Lauf einer Schusswaffe, der Fahrgast hatte keinen Fahrschein. Der Täter kann festgenommen werden.

"Die Angriffe sind unter jedem Niveau"

Carmen Niedermaier begab sich erst in psychologische Behandlung, als ihr ein Gast in den Unterleib getreten hatte. "Im Zug hatte ich das Gefühl, funktionieren zu müssen", sagt sie. Vor allem, wenn sie beschimpft wurde, weil sich der Zug verspätet hatte. In solchen Fällen legten "die Geschäftsleute in der 1. Klasse sämtliche Manieren beiseite", berichtet sie, "die Angriffe sind unter jedem Niveau". Angezeigt aber habe sie die permanenten Beleidigungen - "Schlampe" war noch eine der freundlichen - nahezu nie. "Man kommt einfach nicht dazu", sagt sie. Vielleicht habe sie sich auch nicht getraut.

Statistisch betrachtet bleibt die Bahn das "sicherste Verkehrsmittel in Deutschland", erklärt ein Sprecher der Bahngesellschaft "DB-Sicherheit". Auch seien die Mitarbeiter der Bahn gehalten, "alle Formen körperlicher und verbaler Gewalt umgehend zur Anzeige zu bringen". In der Praxis aber sehe das ganz anders aus, berichtet ein Beamter der Bundespolizei. Die Anzeigen gegen Fahrgäste gingen meist erst nach Dienstschluss der Schaffner ein, oft sei es dann zu spät. In Vernehmungen erklärten die Zugbegleiter, sie müssten schließlich aufpassen, dass sich der Zug nicht zusätzlich verspäte. Denn wenn am Bahnhof die Polizei zusteigt, dann steht der Zug erstmal still. "So was zu rechtfertigen, ist eine Sache des Mutes", sagt ein Ermittler.

Es gibt inzwischen Kurse, in denen Zugbegleiter von Trainern angeleitet werden, wie sie sich möglichst sicher im Abteil bewegen: Wie sie andere Fahrgäste um Hilfe bitten. Welche Körperhaltung sie einnehmen sollen. Und wie sie sich im Gang hinstellen, um möglicherweise durchdrehenden Schwarzfahrern nicht jede Fluchtmöglichkeit zu nehmen. Diese Kurse, sagt der Transnet-Mann Hauenstein, hätte "die Bahn längst zum Pflichtprogramm erklären müssen".

Vor einer Woche hörte sich Bahnchef Rüdiger Grube in einem Zelt auf dem Nürnberger Volksfest die Sorgen bayerischer Bahnangestellter an. Eine Frau fragte ihn, wie das Unternehmen Deutsche Bahn seine Mitarbeiter künftig besser zu schützen gedenke. Der Bahnchef antwortete, die zunehmende Aggressivität in den Zügen sei ihm bestens bekannt: "Wir nehmen das sehr, sehr ernst." Grube kündigte ein neues Sicherheitskonzept an. An zusätzliche Kameras in den Zügen sei gedacht, auch an Freifahrten für das Sicherheitspersonal auf dem Weg zur Arbeit, um kurzfristig mehr Personal in die Züge zu bekommen.

Carmen Niedermaier war auch in dem Zelt, als der Bahnchef mehr Sicherheit für Zugbegleiter versprach. In die Züge zurück will sie trotzdem nicht.

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