Süddeutsche Zeitung

Andreas Altmann und sein Altötting-Buch:Abrechnung mit einem Provinzloch

Von der Mutter beinahe mit einem Kissen erstickt, vom Vater regelmäßig verprügelt, vom Katholizismus "psychisch vergewaltigt": Andreas Altmann hat eine bewegende Autobiographie über seine Jugend im Wallfahrtsort Altötting geschrieben. Beim Auftakt seiner Lesereise in München kamen vielen Zuschauern die Tränen.

Beate Wild

Was erwartet den Leser, wenn einer seine Autobiographie "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend" nennt? Eine gnadenlose Abrechnung?

Der Reiseschriftsteller Andreas Altmann hat ausnahmsweise mal nicht über Indien, China oder Südamerika geschrieben, sondern über seinen Geburtsort Altötting.

Zum Auftakt seiner Lesereise ist der Autor am Donnerstag nach München gekommen. Im Theater am Marstall erscheint der 62-Jährige in Begleitung der Schauspielerin Sophie von Kessel, die ihn beim Vortragen ausgewählter Passagen aus seinem Werk unterstützt, das nicht nur in Altötting für große Aufregung sorgte. Gleich zu Beginn sagt er Sätze wie "Altötting, dieses Provinzloch in Bayern" und "Ich bin dort unter die Räder der katholischen Provinz gekommen".

In dem Buch geht es um Altmanns schlimme Kindheit im Nachkriegsdeutschland. Der Vater war Kriegsheimkehrer und ehemaliger SS-Offizier. Zu Hause herrschte er mit grausamer Strenge, misshandelte Frau und Kinder - und besonders den jüngsten Sohn Andreas. Aber nicht nur im elterlichen Heim wurde Altmann von einem Despoten geknechtet, auch in der Schule ging es streng-katholisch zu. "Im Religionsunterricht fiel oft der Watschnbaum um", sagt der Autor.

Er klagt vor allem die verlogene Gesellschaft der Nachkriegsjahre in dem oberbayerischen Wallfahrtsort an. Viele hätten tagsüber frömmelnd und christlich-unterwürfig getan, abends aber ihre Kinder und Frauen gequält und verprügelt. Sein Vater, Franz Xaver Altmann, war in Altötting ein angesehener Geschäftsmann. Ein Devotionalienhändler, wie es am Kapellenplatz des Pilgerorts viele gibt. Von den Einheimschen wurde er gar "Rosenkranzkönig" genannt.

Doch der "Rosenkranzkönig", der tagsüber Madonnenbildchen verkauft, ist abends ein grausamer Tyrann. Auch die Mutter wird seelisch und körperlich gequält. Später, als Andreas elf Jahre alt ist, wird sie vom Vater aus dem Haus vertrieben.

Aber auch die Mutter scheint keine Liebe für ihren jüngsten Sohn zu empfinden. Als Altmann 27 Jahre alt ist, findet er heraus, dass sie ihn direkt nach der Geburt im Krankenhaus mit einem Kissen ersticken wollte. Doch die Hebamme sei rechtzeitig dazu gekommen und habe ihn gerettet. Als der Autor diese Begebenheit erzählt, kommt er ins Stocken, seine Stimme zittert.

Altmann wirkt trotz seiner 62-Jahre jugendlich und durchtrainiert. Man könnte ihn optisch für die deutsche Version von Charlie Sheen halten. Seit vielen Jahren lebt er in Paris, weil es ihm so gut gefällt dort. Insgesamt 20 Jahre Psychotherapie hat er hinter sich, erzählt er, um seine verpfuschte Jugend zu verarbeiten.

Weitestgehend ist ihm das gelungen, auch wenn er bis heute keinen Zugang zur Liebe gefunden hat, wie er selbst sagt. Bedingungslos lieben und geliebt werden - das kann er nicht und wird es auch nicht mehr lernen. Das hat man ihm in frühen Jahren ausgetrieben.

Die Zuhörer im ausverkauften Marstall zieht Altmann in seinen Bann. Es sind auch viele Altöttinger und Ex-Altöttinger gekommen, die sich für die Lebensgeschichte ihres ehemaligen Mitbürgers interessieren. Eine Frau etwa fängt während der Lesung zu weinen an und sagt: "Das geht mir so nahe, ich bin auch in Altötting aufgewachsen und kenne das Ganze so genau. Er sagt absolut die Wahrheit. Alles, was er sagt, stimmt."

Der Autor berichtet, dass er 1200 Mails bekommen hat. Einige Schreiber haben ihn beschimpft und bedroht, aber die meisten haben ihm gratuliert, dass er sich getraut hat, das auszusprechen, was viele - gerade in seinem Alter - quälend nachempfinden können.

Das Buch von Altmann triff den Nerv einer ganzen Generation, weil es die Unbarmherzigkeit im Nachkriegsdeutschland anprangert und die "psychische Vergewaltigung" - wie Altmann das nennt - durch den Katholizismus thematisiert. Es geht um den psychischen Missbrauch von Minderjährigen in streng-katholischen Dörfern auf dem Land. Altötting ist hier wie ein Synonym für dieses Phänomen im kriegsgeschädigten Deutschland.

Als der Vater starb, war Altmann 34 Jahre alt. Er hat es nicht fertig gebracht, den sterbenden Erzeuger im Krankenhaus zu besuchen. Niemand aus der Familie kam an das Sterbebett des Vaters. Er starb einsam und alleine. Erst zur Beerdigung machte sich Altmann auf den Weg nach Altötting. "Ich bin mit einem 43-prozentigen Slivovic angereist", sagt er. Sonst hätte er es nicht ausgehalten.

Nachts hat er seinen Vater dann im Leichenschauhaus besucht, das wundersamerweise nicht abgesperrt war. Vor dem Sarg des Tyrannen musste er plötzlich weinen, wie noch nie zuvor in seinem Leben, sagt er.

Am Ende findet Altmann für seinen Despoten-Vater versöhnende Worte. Er habe es zu Lebzeiten nicht geschafft, ihm zu verzeihen, doch heute merke er, dass der Vater mit "Horrorbildern" im Kopf von der Front heimgekehrt sei und wohl nicht anders konnte. Oder wie Altmann das in seiner saloppen Art formuliert: "Er hatte die Arschkarte in beiden Händen."

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