Diese Geschichte hat kein Happy End. Obwohl es Großes zu feiern gibt, mit vielen glücklichen Erinnerungen: Vor 20 Jahren brachte die Augsburger Band Anajo mit „Nah bei mir“ eines der bezauberndsten Alben der deutschen Indiepop-Geschichte heraus, und dieses erscheint nun zum runden Geburtstag erstmals in einer Neuauflage als Langspielplatte auf Vinyl. Dass das Trio gleichzeitig sein 25-Jähriges auf einer Jubiläums-Tour feiern könnte, dies aber nicht tut, ist das Tragische an dieser Geschichte. Anajo gibt es nicht mehr.
„Ich habe schon noch ein Trauma“, sagt Oliver Gottwald, der Texter, Songwriter, Sänger und Gitarrist von Anajo dieser Tage, „so wie die Trennung vor zehn Jahren ablief“. Stochern wir nicht in den Narben herum, aber kurz soll der heute 46 Jahre alte Musiker, der inzwischen hauptberuflich handgemachte Leuchten online verkauft, erzählen.
Das Ende habe, wie so oft, mit „zwischenmenschlichen Spannungen“ angefangen, vor allem mit und wegen Alaska Winter, Manager, Produzent und Co-Songwriter der Band; von ihm stammt auch der Albumtitel „Nah bei mir“, wohl eine Anspielung auf Burt Bacharachs Gute-Laune-Pop-Klassiker „Close To Me“. Jedenfalls musste Winter bei einem 2:1-Votum (Gottwald wollte es noch einmal versuchen) irgendwann gehen.
Dazu kam der Erfolgsdruck, die Band wollte mehr, „zumindest die Miete mit der Musik bezahlen“. Und das ist eben typisch „indie“, also für viele Selfmade-Stars wie Anajo. Oliver Gottwald (Gesang, Gitarre), Ingolf Nössner (Schlagzeug) und Michi Schmidt (Bass, Keyboard) waren eine „Lieblingsband“, hatten Angebote von großen Plattenfirmen, tourten fürs Goethe-Insitut zweimal durch Russland und für die Robert-Bosch-Stiftung einmal durch die Ukraine, traten bei Stefan Raabs „Bundesvision Song Contest“ für Bayern an, wurden von der bayerischen Staatsregierung bei der Popkomm-Messe mit dem Musiklöwen als beste Indieband geehrt, spielten Hunderte bejubelte Konzerte, hatten „eine geile Zeit“, wie Gottwald sagt – aber zum Leben reichte es letztlich doch nicht.
Vor dem dritten Album „Drei“ stagnierte es. 2014 ging Michael Schmidt nach Hamburg, man machte eine „Familienpause“, die wurde nie beendet. „Es tut immer noch weh“, sagt Gottwald.
Selbstironie war eine ihrer Stärken
Er ist ein feinfühliger, offenherziger Mensch. Das machte seine Texte, seine Stimme aus. Dass da hierzulande ein schwuler junger Mann offen über schöne Männer sang, war damals eine Sensation in der Musikpresse. Heute ist Queerness hipper Mainstream, für Gottwald fühlte es sich schon damals ganz normal an. Seine Lieder waren eben: „Nah bei mir.“ Das machte die Musik von Anajo aus, die das Rolling Stone-Magazin damals verhöhnte. Aus dem Naserümpfen der Pop-Polizei und Zeilen des Verrisses (sie klängen wie „Weezer mit Süßstoff und Rolf Zuckowski“) machten sie einfach einen Song auf dem zweiten Album: „Mädchenmusik“. Selbstironie war eine ihrer Stärken. Weichheit auch.
Ihre Nettigkeit war damals eine Revolution in der deutschsprachigen Indiemusik, die fand man sonst nur bei den Sportfreunden Stiller in München, weniger bei den Coolen aus Berlin oder der Hamburger Schule. Und aus heutiger Sicht kann man feststellen: Als die schnöselig-intellektellen Blumfeld in ihrer Spätphase den Schönklang und das Wort „Liebe“ von den Schlager-Komponisten zurückerobern wollten, waren sie spät dran.
Gottwald hatte schon in seiner Jugend Mitte der Neunziger „Mein erstes richtiges Liebeslied“ geschrieben. Das feierte die Unbeholfenheit des Verliebtseins und schaffte es nicht nur aufs Anajo-Debütalbum, sondern Jahre später sogar in den Soundtrack der US-Erfolgsserie „Better Call Saul“ (Staffel 4, Folge 9) – das Plattenlabel Tapete hatte sich dort selbstbewusst damit beworben.
Der kleine, feine Hamburger Verlag von Gunther Buskies und Dirk Darmstaedter hielt Anajo von Anfang an die Treue (und umgekehrt). Von ihm kam auch der Wunsch, das 20-Jährige von „Nah bei mir“ zu feiern. Das sollte man! Es wird garantiert ein unpeinliches Wiederhören. Die alten Fans wird es berühren, zu Stücken wie „Lang lebe die Weile“ oder „Die Tränen sind immer noch meine“ zu schmachten, vielleicht sogar glücklich zu hopsen wie damals in den Indie-Discos zum Detektiv-Matula-Knaller „Ich hol dich hier raus“ oder zu „Honigmelone“, diesem herrlichen gaga-Song, der eine Dekade vor Harry Styles „Water Melon Sugar“ die Jugend versüßte.
Es sind Zeitdokumente: „Monika Tanzband“ startet mit „Schwing schwing schwing in schwierigen Zeiten“, es war der Tanz auf den Trümmern des World-Trade-Centers. Überhaupt kann man viel Größe und Tiefe entdecken in den mit Gottwalds Varieté-Stimme gesungenen Reimen. Der Walzer „Villa am Strand“ mit seinem Schifferklavier ist doch nah an der Melancholie von Element of Crime. Aus einigen dieser ewigen schönen Verse mag man die alte Ostrock-Poesie heraushören, zumindest die große Liedermacherschule: „Ob man liebt oder schwebt: man lebt / Leider so unüberlegt“ (aus „Vorhang auf“).
Hit folgt auf Hit, denn „Nah bei mir“ war ein Best-of aus fünf Jahren Anajo, für Buskies jedenfalls „Ein Meilenstein für das Label“, wie er Gottwald am Telefon sagte. Den freute das riesig. Den Wunsch, das ganze mit einer Reunion-Tournee zu feiern, entfachte sein Herz. Er hatte viele Anajo-Songs in seinen Solo-Programmen gespielt.
Er trommelte das Trio zusammen, man traf sich das erste Mal seit Jahren zu dritt, zumindest im Video-Call. Ingolf Nössner, heute Schlagzeuglehrer, der sich mit Gottwald in Augsburg einen Proberaum teilt, „wäre offen gewesen“. Michi Schmidt, jetzt Grafiker in Hamburg, rang mit sich, sagte dann aber ab: „Er fühle es nicht mehr“, sagt Gottwald. Er muss schlucken. Bei Oasis hat es doch auch geklappt mit der Wiedervereinigung. „Scheiße, wir hätten es machen sollen.“ Aber: kein Happy End. Oder wo, wie es in „Vorhang auf heißt: „Und es gibt kein Zurück / Du wünschst mir alles Gute und Glück.“