Amoklauf in München:Ohne Alarmismus und Polemik

Bayerns Regierung trifft sich nach dem Amoklauf zu einer Krisensitzung. Seehofer, sichtlich mitgenommen von der langen Nacht, verkneift sich das Politisieren. Lob gibt es für die Polizei - und für die Bevölkerung.

Von Lisa Schnell und Wolfgang Wittl

Ministerpräsident Horst Seehofer trägt an diesem Trauertag einen dunkelblauen, fast schwarzen Anzug. Neben ihm referiert Innenminister Joachim Herrmann die grausamen Fakten der vergangenen Nacht: die neun Morde eines Amokläufers in einem Münchner Einkaufszentrum, die Ungewissheit, ob nicht noch mehr Täter geschossen haben, die Panik. Seehofer hört zu, seine Hände ruhen auf dem Rednerpult, gefaltet wie zum Gebet, mehrere Sekunden ist Seehofer tief in sich versunken. Es ist Samstag, die Tat liegt keine 20 Stunden zurück.

Gerade erst die Zug-Attacke in Würzburg, jetzt neun Morde in München. Diese "unfassbare Bluttat" erschüttert das Land, sagt Seehofer, und sie erschüttert auch ihn: "Ich sage den Angehörigen: Wir sind mit Ihnen in Trauer vereint." Am nächsten Sonntag, am letzten Julitag, will die Staatsregierung gemeinsam mit der Stadt und dem Landtag zum Trauerakt ins Maximilianeum einladen, kein Kabinettsmitglied soll bis dahin an irgendwelchen Feierlichkeiten teilnehmen, kein Bierzelt, kein Umzug. Nur ein paar Meter von der Staatskanzlei klappen sie ihre Stände zusammen: Auch das Bierfest der Brauer - abgesagt. Das gebietet für Seehofer der Anstand.

Für elf Uhr hat er am Samstag seine Minister zu einer Sondersitzung zusammengerufen. Vor der Staatskanzlei wehen die Fahnen auf Halbmast, wobei "wehen" die Wirklichkeit unzureichend beschreibt. Nur alle paar Minuten versetzt ein müder Windstoß die Flaggen kurz in Bewegung, ansonsten baumeln sie trostlos vor sich hin, als würden sie mit der Stadt und ihren Menschen trauern.

Drinnen diskutieren die Minister. Die Betroffenheit ist groß, wie Mitglieder berichten. Eineinhalb Stunden schildern Innenminister Joachim Herrmann und die führenden Köpfe der bayerischen Sicherheitskräfte die Ereignisse vom Vorabend. Die Minister und Staatssekretäre sprechen der Polizei ihre Hochachtung aus.

Das Kabinett ist vollständig angetreten, auch Landtagspräsidentin Barbara Stamm nimmt an der Besprechung teil. Stamm zeigt sich tief gerührt von der Hilfsbereitschaft der Münchner, die Menschen in Angst ihre Türen öffneten. So groß das Leid und das Entsetzen auch sei, "unsere Gesellschaft hält dann doch zusammen", sagt sie mit feuchten Augen. Keiner im Kabinett schwänzt die Sitzung, obwohl die meisten von ihnen andere Termine im Kalender stehen hatten.

Herrmann wollte sich eigentlich einen Überblick über die Aufräumarbeiten in Simbach verschaffen, jener niederbayerischen Kleinstadt, die vor Wochen selbst Tote nach einem dramatischen Hochwasser zu beklagen hatte. Finanzstaatssekretär Albert Füracker hat kurzfristig den Bezirksparteitag der oberpfälzischen CSU abgesagt, deren Vorsitzender er ist. Auch sein Minister Markus Söder hätte dort sprechen sollen. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Ilse Aigner war gerade in Amsterdam, Seehofer sagt im Kabinett, sie habe den ersten Flieger genommen, um sofort zu kommen.

Vier Stunden saß Seehofer in der Einsatzzentrale der Polizei

Der Ministerpräsident selbst wollte ursprünglich bei der Firma Aerotec zu "100 Jahre Flugzeugbau in Augsburg" als Festredner auftreten, einem Tochterunternehmen der Airbus Group, das Bauteile auch für militärische Flugzeuge herstellt. Stattdessen hört er Berichte, wie Polizeihubschrauber über einer Stadt kreisten, die sich eine Nacht im Ausnahmezustand befand. "Hochkonzentriert" sei die Stimmung gewesen, sagt ein Kabinettsmitglied.

Etwas blass tritt Seehofer vor die Presse. Die Horrornacht von München, er hat sie hautnah miterlebt. Vier Stunden saß er in der Einsatzzentrale der Polizei. Fast alle zehn Minuten ein neuer Notruf oder Hinweis aus der Bevölkerung, insgesamt fast 5000, wie Landespolizeipräsident Wilhelm Schmidbauer berichtet. Schüsse am Stachus, Schüsse am Isartor, Schüsse am Hauptbahnhof. Falschmeldungen, aber das wusste man ja nicht. "Man kann ja nicht einfach sagen: Schusswechsel am Stachus, das interessiert uns nicht", sagt Seehofer.

Der Ministerpräsident spricht nun frei, seine Beileidsbekundung hatte er noch abgelesen, was er selten macht. Trotzdem verhaspelte er sich ein-, zweimal. Seehofer berichtet von der "stundenlangen Ungewissheit", ob noch weitere Täter mordend durch die Stadt ziehen. Und dann vom "großen Aufatmen", als sich die These vom Einzeltäter als wahr herausstellte. Er habe schon immer eine sehr hohe Meinung von den Sicherheitsbehörden gehabt, sagt Seehofer, jetzt sei seine Hochachtung noch gestiegen. Er bewundere die Ruhe und Professionalität, auch die Geduld. Daran wolle er sich ein Beispiel nehmen. Und das tut er auch.

Kein alarmistisches Wort. Keine Politisierung. Keine Spekulationen. Auch schnelle Forderungen etwa nach einem Inlandseinsatz der Bundeswehr, wie sie der außenpolitische Sprecher der CSU-Bundestagsfraktion, Florian Hahn, noch in der Nacht über Twitter rausgehauen hat, vermeidet Seehofer. "Ich habe gelernt, gerade in so hochkomplexen Dingen muss man die Geduld aufbringen und auf die Ermittlungsergebnisse der Polizei warten", sagt der Ministerpräsident. Bei der Kabinettsklausur nächste Woche in St. Quirin will er sich "ausreichend Zeit" nehmen und "tief diskutieren", welche politischen Konsequenzen aus dem Amoklauf zu ziehen sind. Dann wird es um den Personalstand der Polizei gehen, um ihre Ausrüstung und um gesetzliche Änderungen.

Die Motive des Täters sind zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Es gebe Hinweise, dass David S. sich schon länger mit dem Thema Amok beschäftigt habe, sagt Innenminister Herrmann. Der Täter habe wohl "eine nicht unerhebliche psychische Störung" sowie "Probleme in seinem aktuellen Bildungslebenslauf" gehabt. Auch der fünfte Jahrestag des Attentats auf der norwegischen Insel Utoya mit 77 Toten könnte ein Rolle spielen. Ausführlich lobt Herrmann die Arbeit der Polizei. "Wir haben einen starken Staat", das habe der Einsatz gezeigt.

Bei den Münchnern bedankt sich Herrmann für die vielen Hinweise. Allerdings warnt er auch davor, bewusst Falschmeldungen zu verbreiten. Es müsse nun überprüft werden, welche Meldungen ernst gemeint waren und wer dachte, er würde da "etwas besonders Witziges tun" und damit eventuell Menschenleben gefährden, sagt der Innenminister.

Seehofer bekräftigt: "Wir brauchen die Mithilfe der Bevölkerung." Er appelliert, der Angst und Unsicherheit im Alltag nicht die Oberhand zu überlassen. "Wir müssen alles dafür tun, die Freiheit zu verteidigen", sagt er. Seine Stimme ist nun nicht mehr leise und von Trauer getragen, sondern fest und bestimmt. Dann fährt er zum nächsten Termin. Kranzniederlegung am Tatort.

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