Amoklauf Ansbach:"Er hat auch zuletzt immer freundlich gegrüßt"

Der Direktor des Ansbacher Gymnasiums Carolinum, Franz Stark, widerspricht der These, dass der Amokläufer ein Außenseiter war.

Uwe Ritzer

Seit dem Amoklauf an seiner Schule, dem Gymnasium Carolinum, am Donnerstag fällt Franz Stark, 60, vor allem durch die Umsicht und Überlegtheit auf, mit der er handelt und redet.

Franz Stark, dpa

Franz Stark: "Überwältigend ist die Anteilnahme. Laufend kommen Mails von wildfremden Menschen an, die uns teilweise auf sehr rührende Weise ihr Mitgefühl bekunden."

(Foto: Foto: dpa)

Seit fünf Jahren ist der Lehrer für Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Ethik Direktor des Ansbacher Gymnasiums. Im Interview reflektiert Stark das dramatische Geschehen, wehrt sich gegen Kritik und warnt zugleich vor vorschnellen und falschen Konsequenzen.

SZ: Herr Stark, haben Sie bereits begriffen, was am vergangenen Donnerstag über Sie hereingebrochen ist?

Franz Stark: Ich habe das 15-jährige Mädchen gesehen, kurz nachdem es der Amokläufer schwer am Kopf verletzt hat. Seither treibt mich ein Gedanke pausenlos um: Wie kann ein junger Mensch mit einem so archaischen Gegenstand wie einer Axt auf seine Mitschüler einschlagen? Für mich ist das absolut unbegreifbar. Ansonsten bin ich noch lange nicht so weit, das Geschehen einigermaßen zu reflektieren.

SZ: Die psychologischen Hilfsangebote für Schüler, Eltern und Lehrer sind umfangreich. Werden Sie auch genutzt?

Stark: Es besteht Nachfrage und Gesprächsbedarf, übers Wochenende hält er sich wohl in Grenzen. Wie ich gehört habe, gibt es nicht sehr zahlreiche Anrufe bei der psychologischen Hotline. Am Tag nach dem Amoklauf haben von unseren 700 Schülerinnen und Schülern etwa 150 die Gesprächsangebote der Notfallseelsorger und Psychologen genutzt. Überwältigend ist hingegen die Anteilnahme. Laufend kommen Mails von wildfremden Menschen an, die uns teilweise auf sehr rührende Weise ihr Mitgefühl bekunden. Auch die Schule in Winnenden hat sich gemeldet und ihre Hilfe angeboten. Für all das sind wir sehr dankbar.

SZ: Wie sieht es im Gymnasium Carolinum momentan aus?

Stark: Die Polizei hat ihre Spurensicherung am Freitagabend beendet. Übers Wochenende hat die Stadt Ansbach das Schulgebäude gereinigt. An diesem Montag stellen wir es den Schülern frei, ob sie in die Schule kommen wollen. Ab Dienstag wollen wir langsam versuchen, ganz behutsam wieder eine gewisse Normalität einkehren zu lassen. Dabei werden wir genau hinschauen, wie die Schüler das verkraften. Psychologen, Notfallseelsorger und andere geschulte Experten für Krisenintervention werden uns dabei begleiten. Den eigentlichen Tatort im dritten Stock werden wir noch länger abgesperrt lassen.

SZ: Der Amoklauf dauerte nur wenige, jedoch unvorstellbar dramatische Minuten. Wie haben Sie diese erlebt?

Stark: Es sind viele Bilder, die sich mir eingebrannt haben. Unser Schüler Johannes Knoblach wird zu Recht dafür gefeiert, dass er den Brand im Klassenzimmer der 10b gelöscht und mutig Schlimmeres verhütet hat. Aber er war nicht der einzige Held. Auch viele Kollegen haben unglaubliche Reaktionen gezeigt.

SZ: Zum Beispiel?

Stark: Ein Lehrer hat das von den Axthieben am Kopf schwer verletzte, stark blutende Mädchen einfach hochgehoben, nach unten getragen und aus der Gefahrenzone in Sicherheit gebracht. Dadurch bekam sie schnell Erste Hilfe. Der Lateinlehrer der 10b, wo die ersten beiden Molotowcocktails explodiert waren, trieb seine Schüler raus und rannte dann ins Direktorat im ersten Stock, um uns zu informieren. Der Täter hatte ihn bedroht. Trotzdem brachte sich der Kollege nicht selbst in Sicherheit, sondern rannte wieder hoch, um sicherzustellen, dass wirklich alle Kinder draußen waren. Das war alles, als noch keine Polizei da war.

SZ: Waren Sie und Ihr Kollegium in irgendeiner Weise für den Fall eines Amoklaufs vorbereitet oder geschult?

Stark: Wir hatten erst kurz zuvor mit der Polizei über eine solche Situation gesprochen und eine Art Konzept entwickelt. Aber das ist Theorie; trainieren kann man so etwas nicht. Wenn es passiert handelt man spontan. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen: Die Klasse 9b hatte gerade Englischunterricht, als der Täter die Tür aufriss und zwei Molotowcocktails rein warf. Sie explodierten nicht, aber die Lehrerin wurde verletzt und Panik brach aus. Diese Kollegin hat sich mit den Kindern sofort in dem Zimmer verbarrikadiert. Einige Mädchen wollten wohl hysterisch vor Angst aus dem Fenster im dritten Stock springen, was sie verhindert hat. So haben mehrere Kollegen sehr verantwortungsbewusst und mutig gehandelt und dabei ihre Gesundheit und ihr Leben riskiert.

SZ: Trotzdem gab es Kritik. Etwa daran, dass Sie Feueralarm ausgelöst und die Schüler nicht explizit über den Amoklauf informiert haben.

Stark: Wir haben im Carolinum keine Sprechanlage für Lautsprecherdurchsagen. Aber völlig unabhängig davon war der Feueralarm genau richtig. Der Amoklauf fand in der obersten Etage statt, es brannte und wir konnten die unteren Stockwerke geordnet evakuieren. So haben wir Panik verhindert. Als die Polizei eintraf, war die Schule bereits geräumt. Ich finde es unglaublich, wenn eine Landtags-Abgeordnete fordert, man müsse Fehler der Schule untersuchen. In solch einer Situation handeln Sie blitzschnell und können nur hoffen, dass Ihre Instinkte und Reaktionen richtig sind.

SZ: Es heißt, dass der Attentäter Georg R. ein Außenseiter und Einzelgänger war. Stimmt das?

Stark: Ich habe ihn in der achten Klasse selbst unterrichtet und als eine angenehme Erscheinung in Erinnerung. Er hat auch zuletzt immer freundlich gegrüßt, wenn man ihn traf. Unsere Aula ist ein Kommunikationszentrum. Da saß er oft, schon für sich, aber nicht ausgegrenzt oder ohne Kontakte zu anderen. Ein Einzelgänger, aber nicht unbedingt ein Außenseiter. Er spielte im Schultheater mit und war da anerkannt. Man erzählt sich, er hätte in Diskussionen bisweilen seltsame und abstruse Ansichten vertreten. Meinungen, die abseits lagen. Auch von angeblichen Problemen mit Mädchen ist die Rede. Manche sagen, er sei nicht gerne in die Schule gegangen. Aber das tun andere auch nicht, ohne deshalb Amok zu laufen. Für mich erklärt all das die Tat nicht. Irgendetwas muss in seinem Leben passiert sein, von dem wir alle nichts wissen und das ihn völlig aus der Bahn geworfen hat.

SZ: Die jüngere Schwester von Georg R. besucht am Carolinum die 11. Klasse und war zum Zeitpunkt des Attentats im Haus. Wie gehen Sie damit um?

Stark: Da haben sich unglaublich rührende Szenen abgespielt. Das Mädchen wusste nicht, dass ihr Bruder der Attentäter ist. Ihre Reaktion, als sich dann herumsprach, dass es der Georg ist, kann man sich vielleicht denken. Wir müssen uns alle um dieses Mädchen kümmern, denn auch sie ist ein Opfer. Ihre Klassenkameraden zeigen ihr gegenüber eine vorbildliche Haltung. Sie kümmern sich intensiv und zeigen ihr auf jede erdenkliche Weise, dass sie zu ihnen gehört und sie sie gern haben.

SZ: Gegenüber den Medien zogen sich manche Schüler zurück, andere gaben bereitwillig Interviews, einige ließen sich für Bilder und Informationen bezahlen. Wie bewerten Sie das?

Stark: Ihre Beobachtungen stimmen. Jemand hat angeblich den Jahresbericht der Schule verkauft, in dem ein Foto von Georg war. Eine Schülerin ließ wohl gegen Honorar ihre Brandwunde fotografieren. Insgesamt war das nur eine Minderheit. Auch viele Journalisten haben sich korrekt verhalten. Nur einige Boulevardmedien waren rücksichtslos. Viele von uns hat das riesige Medieninteresse überfordert. Wir baten daher die Polizei, weiträumiger abzusperren. Ich selbst hatte das Angebot, an diesem Montag zu einer Fernsehsendung nach Hamburg zu fliegen. Aber alles was Recht ist - mein Platz ist jetzt an meiner Schule.

SZ: Welche Konsequenzen müssen aus dem Amoklauf gezogen werden?

Stark: Vor allem keine voreiligen. Mir sind viele Vorschläge und Forderungen viel zu reflexartig und schnell. Sicher muss man sich überlegen, wie Problemfälle schneller erkannt werden können. Aber Schulen dürfen nicht zu hermetisch abgeschirmten Hochsicherheitstrakten werden, womöglich mit elektronischen Einlasskontrollen, Taschendurchsuchungen und Leibesvisitationen. Wollen wir wirklich so die Bildung, den Charakter und das Menschenbild unserer Kinder prägen? Nein, so können wir sie nicht zu offenen Menschen erziehen.

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