Kirche:Fußwallfahrt nach Altötting: 55,05 Kilometer Glaube

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Gut eine Million Pilger im Jahr - 1489 soll sich der Überlieferung nach in der Gnadenkapelle der Schwarzen Muttergottes ein Wunder ereignet haben. (Foto: Sebastian Beck)

Heute spielen bei den Pilgern auch Schrittzähler-Apps und gut sitzende Sportschuhe eine Rolle - doch das eigentliche Anliegen ist seit Jahrhunderten gleich.

Von Katharina Schmid, Altötting

Freitag, 21.15 Uhr. Knapp zwanzig Menschen stehen auf dem Friedhof der Kirche St. Jakob in Günzkofen. Sie tragen Sportschuhe und Windjacken in allen Farben, haben Rucksäcke geschultert, Stirnlampen auf dem Kopf. "Ich geh zum ersten Mal von Günzkofen aus mit", sagt eine. "Ich bin schon zum siebten Mal dabei", sagt ein anderer. Zwischen den perfekt ausgerüsteten Menschen ein alter Mann im Anzug, schlohweißes Haar, Hacklstecker in der Hand. Sein Gang zittert ein wenig, sein Stimme tut es auch, als er sagt: "50 Mal bin ich mitgegangen, 50 Mal. Jetzt geht's nicht mehr." Er fasst Helmut Steinmeier am Arm und sagt: "Macht es wieder gut, gell. Und tut's aufpassen."

Helmut Steinmeier, groß, grau meliertes Haar, Fahnentragegurt über der Schulter, ist Pilgerleiter; der alte Mann ist der Bruder von Steinmeiers Vorgänger, der die Wallfahrt aus dem niederbayerischen Günzkofen ins oberbayerische Altötting mehr als 50 Jahre geleitet hat. Und die Leute in Sportklamotten, die auf dem Friedhof stehen und auf den Wallfahrersegen vom Pfarrer warten, sind Pilger, die sich gegen halb zehn Uhr abends auf den Weg zur Schwarzen Madonna nach Altötting machen.

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Gut 60 Kilometer liegen vor ihnen, eine durchmarschierte Nacht mit nur wenigen Pausen. Ob sie alle ankommen werden, wissen sie nicht. Gegen Blasen an den Füßen und stechende Knie ist niemand gefeit. Aber die Entschlossenheit ist groß, als sich die Gruppe aufmacht, entlang des ersten Höhenrückens, vorbei an alleinstehenden Höfen, aus denen Hunde gegen die Gebete der Pilger anbellen.

Zum 131. Mal pilgern die Günzkofener heuer nach Altötting. Die Wallfahrt gehört zu den längsten Fußwallfahrten an einem Stück in Bayern. Die Strecke hat sich seit 1886 kaum verändert. Über Vilsbiburg, Neumarkt St. Veit und Winhöring geht es zum Altöttinger Kapellplatz, dem Zielort für den nächsten Tag, zwölf Uhr mittags. Ein Unterschied zu Wallfahrten in früheren Jahren: die Strecke wird nur in eine Richtung gegangen. Noch bis in die Siebzigerjahre ging man nach einer Übernachtung in Altötting auch wieder zurück.

Für viele heutige Pilger kaum vorstellbar, reichen doch schon die schmerzenden Glieder nach dem einfachen Weg, die trotz gut sitzenden Sportschuhe und vorbeugend geschluckten Magnesiumtabletten kaum vermeidbar sind. "Und dabei hatten die Wallfahrer früher einfach ihre Sonntagsschuhe oder unbequeme Halbschuhe an", meint der Pilgerleiter.

Sportliche Herausforderung und tiefer Glaube

Steinmeier, Feuerwehrmann in einem Kernkraftwerk, leitet die Wallfahrt zum sechsten Mal. Mitgegangen ist er viel öfter, 40 Mal, schätzt er. Er sei dem christlichen Glauben verbunden, sagt er, und dass er es schade fände, wenn die Wallfahrt aufhören würde. So hat er deren Organisation nach dem Tod seines Vorgängers wie selbstverständlich übernommen. Er und Vorbeter Georg Brachmaier sind die tragenden Säulen, wirklich tragend.

Steinmeier trägt die Fahne aus rotem Brokat, Brachmaier das Gebetsbuch aus dem 19. Jahrhundert, das seit Bestehen der Wallfahrt von Vorbeter zu Vorbeter weitergegeben wird. "Hier sind einfach noch viele christlich geprägt", sagt Steinmeier. Daher würden die Wallfahrer, die regelmäßig mitgehen, es aus Überzeugung tun. Die Teilnehmer dagegen, die die 60 Kilometer nur als sportliche Herausforderung sehen, seien meistens nur einmal mit dabei.

Auch deshalb kennen sich die Wallfahrer untereinander. "Man sieht sich zwar meistens nur einmal im Jahr", sagt Michaela Brandstetter, "aber wenn einer fehlt, dann merkt man das." Die 43-Jährige kennt das Pilgern auch aus größeren Gruppen, aber gerade weil sie das Familiäre an kleineren Wallfahrten schätzt, geht sie seit Jahren regelmäßig mit den Günzkofenern. Heute erstmals die gesamte Strecke. "Zumindest, wenn ich es schaffe."

Brandstetter hat für ihr Smartphone mit Schrittzähler-App extra einen zusätzlichen Akku mitgenommen, um zu sehen, wie weit sie tatsächlich unterwegs sein wird. Und die App kommt an. Den ganzen Weg über erkundigen sich die anderen Pilger immer wieder, wie viele Kilometer schon geschafft sind. Auch das ist Pilgern im 21. Jahrhundert.

Doch ist auch die Ausstattung moderner geworden - die Anliegen der Wallfahrer sind seit Jahrhunderten die gleichen. Sorgen und Nöte werden mit auf den Weg genommen, Bitten um Hilfe und Beistand zur Gottesmutter getragen. Brandstetter ist wie all die anderen mit ihren ganz persönlichen Anliegen unterwegs. Zwar spiele bei ihr keine "erzkatholische" Grundhaltung eine Rolle; mit vielem, was in der Kirche passiert, sei sie nicht einverstanden. Aber sie glaubt an den "Beistand von oben". Für Verwandte, Freunde und Kollegen trägt sie eine Kerze mit nach Altötting, die sie dort im Vorjahr gekauft hat und mit den Namen all derer schmückt, die sie in Gedanken mit auf die Wallfahrt nimmt.

Der Hintergrund der Wallfahrt ist seit vielen Jahren derselbe: Die Pilger bitten um den Beistand der Mutter Gottes. (Foto: Sebastian Beck)

Offiziell sind es etwa eine Million Pilger, die jährlich nach Altötting, Deutschlands größtem Wallfahrtsort, kommen. 1489 soll sich der Überlieferung nach in der Gnadenkapelle der Schwarzen Muttergottes ein Wunder ereignet haben. Ein totgeglaubter Bub öffnete nach inständigem Gebet seiner Mutter die Augen. Seither ist die Kapelle zu einem Ziel für Marienverehrer aus aller Welt geworden. Viele kommen in Bussen, vor allem im Sommerhalbjahr sind Rad- und Fußwallfahrer unterwegs.

Die meisten von ihnen am Pfingstwochenende, wenn auch die etwa 9000 Wallfahrer aus Regensburg zur Gnadenkappelle marschieren. Luise Hell von der Altöttinger Wallfahrtskustodie hat über die Jahre beobachtet, dass das Pilgern zu Fuß nichts an Faszination eingebüßt habe. Bei ihr melden sich jedes Jahr ähnlich viele Fußpilgergruppen an, während die Zahl der Busgruppen eher sinke. Helmut Steinmeier bestätigt: Die Wallfahrer werden nicht weniger; auch weil in der Günzkofener Gruppe junge Leute in die Tradition hineinwachsen.

So war das auch bei Steinmeiers Frau Christa. Mit 16 pilgerte sie zum ersten Mal nach Altötting, seither regelmäßig. Das Erleben werde mit den Jahren noch intensiver. Als junges Mädchen sei ihre Wahrnehmung noch eine andere gewesen, heute bedeute ihr der Weg auch spirituell viel mehr. Sie spricht von einem Gemeinschaftserlebnis und dem "Flow", in den einen jeder Kilometer mehr hineinziehe. "Das macht richtig süchtig", sagt sie.

Ein intensives Erlebnis in einer seltenen Gemeinschaft

Das Erlebnis ist für die Wallfahrer auch deshalb so intensiv, weil wohl die meisten von ihnen das nur einmal im Jahr erleben; zum Beispiel auch, wie gut Weißwürste um 6 Uhr früh schmecken, vor allem, weil sich die schmerzenden Füße währendessen ausruhen dürfen. Von Rast zu Rast wird der Zug aus Günzkofen länger, am Ende sind es etwa 60 Wallfahrer, die auf dem Kapellplatz in Altötting einziehen.

Dort empfängt sie ein Trubel, der mit dem Weg davor nicht zu vergleichen ist. Trubel und Glockengeläut lassen viele aber auch erst merken, was sie in den vergangenen Stunden geschafft haben. Laut Schrittzähler: 55,05 Kilometer in elf Stunden und 41 Minuten. Die App liefert noch viel mehr Daten. Aber so wichtig sind die für die meisten dann doch nicht.

© SZ vom 08.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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