Agatharied:Mit Blaulicht durch die Gegend - "weil der Job cool ist"

Agatharied: Die BRK-Rettungskräfte Jens Korn (vorne) und Sebastian Müller haben gerade eine 88-jährige Patientin ins Krankenhaus Agatharied gebracht.

Die BRK-Rettungskräfte Jens Korn (vorne) und Sebastian Müller haben gerade eine 88-jährige Patientin ins Krankenhaus Agatharied gebracht.

(Foto: Dietrich Mittler)

Sanitäter sind schlecht bezahlt und werden häufig angepöbelt. Warum tun die Rettungskräfte sich das an? Unser Autor ist bei einem Einsatz mitgefahren.

Von Dietrich Mittler, Agatharied

Um es einmal so zu sagen: Der Begriff Liebe wäre zu hoch gegriffen, um das zu beschreiben, was Sebastian Müller mit seinem Einsatzfahrzeug verbindet. Und doch, dieser Mercedes-Benz-Rettungstransportwagen vom Typ Sprinter BM 906.1, Baujahr 2014, 163 PS und gut viereinhalb Tonnen Leergewicht, der hat im Leben des 34-jährigen Rettungsassistenten schon was mit Liebe zu tun: "Für meinen vierjährigen Sohn ist es das Allergrößte. Wenn wir hier zur Wache kommen, dann will er immer direkt in den Rettungswagen." Und natürlich freut sich Müller auch, wenn sein Bub im Kindergarten erzählt: "Mein Papa darf aber mit Blaulicht durch die Gegend fahren."

Müller ist einer jener gut 4600 hauptamtlichen Rettungskräfte des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK), die für 1800 bis 2000 Euro netto im Monat Zigtausende Kilometer pro Jahr zurücklegen, um Menschenleben zu retten - oftmals ein Knochenjob. In Spitzenzeiten bringt der nicht nur körperliche Strapazen mit sich, sondern auch psychische, etwa beim Anblick toter Kinder. Gerade tobt zwischen der Gewerkschaft Verdi und dem BRK ein heftiger Schlagabtausch. Es geht um einen neuen Manteltarifvertrag, um neue Arbeitszeiten- und Pausenregelungen für die Rettungskräfte. Eine Einigung ist bislang nicht in Sicht.

Natürlich hat Sebastian Müller von dieser Auseinandersetzung mitbekommen - obwohl er nicht in der Gewerkschaft ist. Auch in seiner Rettungswache, integriert in den Gebäudekomplex des Krankenhauses Agatharied, hängt ein Plakat von Verdi. Und wie viele seiner Kollegen braucht Müller einen Nebenjob, um seine junge Familie gemeinsam mit der Partnerin über Wasser halten zu können. Er fährt Taxi.

Warum das alles? Warum nicht etwa als Koch arbeiten, in dem Beruf also, den der 34-Jährige eigentlich gelernt hat? "Wir machen das, weil der Job cool ist", sagt Müllers Chef Rudolf Scheibenzuber, der Rettungsdienstleiter im BRK-Kreisverband Miesbach. Auch Scheibenzuber hatte Nebenjobs, wie er sagt: "Hier im Landkreis Miesbach haben wir Quadratmeter-Mietpreise, dass man feuchte Augen kriegt." Also noch einmal: Warum an diesem Job festhalten, warum sich von Besoffenen anpöbeln lassen und von ignoranten Mitbürger zu hören bekommen, Rettungskräfte seien doch nur die Kofferträger der Notärzte?

"Dieser Job ist sicher - und ich kann Menschen helfen", sagt Müller. Gleich zu Beginn seiner Berufstätigkeit wurde er zu einem Einsatz gerufen, da stellte sich heraus, dass die Patientin seine eigene Tante war. Diagnose: Herzinfarkt. Sie wurde gerettet.

Als Müller 2004 im Saarland als Zivildienstleistender zum Rettungsdienst kam, war er bekennender Blaulicht-Freak. Allerdings holten ihn die erfahrenen Kollegen "schnell auf den Boden zurück", wie er erzählt. Nun gehört er selbst zu den Erfahrenen. Kürzlich ist er zum Stellvertretenden Wachleiter ernannt worden. "Nun versuche ich diese Ruhe an die Jüngeren hier weiterzugeben", sagt er. Just in diesem Augenblick kommt die Alarmierung der Rettungsleitstelle Rosenheim herein.

54 Millionen

Kilometer haben die Mitarbeiter des BRK-Rettungsdienstes im Vorjahr zurückgelegt. Diese Zahl ergibt sich aus mehr als 1,8 Millionen Einsätzen im Freistaat, bei denen kranke Menschen im Notfall versorgt oder gar die Leben von Unfallopfern gerettet werden mussten. An etlichen Einsätzen waren neben den hauptamtlichen auch ehrenamtliche Helfer beteiligt.

Beim ersten Einsatz an diesem Tag bleibt jedoch das Blaulicht aus - ein einfacher Krankentransport. Der Benz schraubt sich kurz darauf im malerischen Voralpenland Anhöhen hinauf, Eindrücke huschen vorbei: da ein roter Hydrant mitten auf der Wiese, dort gelbe Hinweisschilder zu Ausflugszielen, weit dahinter die schneebedeckten Berggipfel. Schließlich tritt der Rettungsassistent Jens Korn, 19 Jahre alt, auf die Bremse.

Der Wagen hält vor einem zweistöckigen Haus. Darin wartet die Patientin. Erna Scheibler (Name geändert) steht mit zwei gepackten Koffern im Gang ihrer Wohnung. Eine Hausärztin hat sie ins Krankenhaus überwiesen, offenbar Gallenprobleme, Schmerzen im Bauchbereich. "Ganz schöne Schmerzen", sagt die 88-Jährige. Müller hilft ihr in den Wagen.

40 Prozent der Rettungswachen haben nur alle fünf Stunden einen Einsatz

Kurz darauf liegt Erna Scheibler auf der Trage des Rettungsteams, Blutdruck 197 zu 103. "Den müssen wir senken", sagt Müller. Erna Scheibler soll ihre Schmerzen auf einer Skala einordnen. "Am Sonntag waren sie auf Stufe zehn", sagt sie - unerträglich also. Jetzt sei der Schmerz auf Stufe fünf. "Auch noch heftig", sagt Müller, erklärt, dass heute kein Patient mehr Schmerzen haben müsse. Dagegen gebe es Mittel. "Genießen Sie Ihr Leben", sagt die 88-Jährige plötzlich. "Ich versuch's", gibt Müller zurück. Die alte Dame insistiert: "Genießen Sie es! Sie glauben gar nicht, was im Alter alles daherkommt."

Müllers Kollege Jens Korn hat inzwischen per Funk den Notarzt Christian Bremm informiert. Kurz darauf trifft der aus Miesbach ein - Typ cool, direkt und schnell per du. Die Symptome am Bauch der Patientin gefallen ihm gar nicht. "Tschuldigung, dass ich da so rumtaste. Aber das ist jetzt wichtig, dass wir da mal kurz schauen. Ist okay, oder?" Erna Scheibler nickt, beantwortet tapfer die Fragen des Arztes. "Ultraschall hat aber niemand gemacht, oder?", will Bremm wissen. Seine Stimme klingt verärgert. Zwar sind die Daten zur Anmeldung der Patientin längst elektronisch an das Krankenhaus übermittelt worden, Bremm greift dennoch zu seinem Handy - fordert weitere Untersuchungen. Bald darauf ist der Einsatz beendet, die Ärzte des Krankenhauses kümmern sich jetzt um die 88-Jährige.

Sebastian Müller und Jens Korn richten ihr Fahrzeug für den nächsten Einsatz her. Dann beginnt das Warten. Immer lauter scheint der rote Sekundenzeiger im Wachraum zu ticken. Da endlich, wieder ein Alarm: Brand in einem Ausflugscafé, die Feuerwehrleute brauchen die Sanitäter zur Absicherung, falls beim Einsatz etwas schiefgeht. Zurück auf der Wache scheint der Sekundenzeiger noch lauter zu ticken. Müller und Korn falten Tragelaken, bringen den Müll weg, greifen zu ihren Büchern. "Das wird wieder anders, wenn mit dem schönen Wetter die Urlaubsgäste kommen", trösten sie sich.

Zur gleichen Zeit kommen die Kollegen in der Rettungshauptwache im fränkischen Fürth kaum noch hinterher. Rettungsassistent Norbert Jahn, ein Verdi-Mann, berichtet von monatlich mehr als 50 000 Einsätzen im Großraum Nürnberg. "Da sind wir glücklich, wenn wir mal zum Essen kommen", sagt er. BRK-Landesgeschäftsführer Leonhard Stärk weiß um die Probleme, verweist indes darauf, wie sich die Dienste in den Ballungsräumen und den ländlichen Gebieten unterscheiden.

Gut 40 Prozent der Rettungswachen in Bayern müssten oft fünf Stunden auf den nächsten Einsatz warten. Und da andere Arbeitszeitmodelle einzuführen, da spielten die Kassen nicht mit. Der Miesbacher Rettungsdienstleister Rudolf Scheibenzuber ist besorgt über den heftigen Streit zwischen BRK und Verdi. Er verstehe beider Argumente. "Wenn jetzt nicht beide Seiten aufeinander zugehen, löst das keines unserer Probleme", sagt er.

Unterdessen geht Sebastian Müller zu den Ärzten, die Erna Scheibler versorgt haben. Die Diagnose lautet: Verdacht auf einen bösartigen Tumor an der Bauchspeicheldrüse. "Wenn mich das kalt lässt, bin ich in diesem Job verkehrt", sagt er. Der Arbeitstag hätte besser enden können.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: