Ärztemangel auf dem Land:Die Rückkehr des Medizinmanns

Ärztemangel auf dem Land: Landärzte tun sich schwer, im Alter einen Nachfolger für ihre Praxis zu finden. Gottfried Hagitte ist deshalb wieder in seinen Beruf eingestiegen.

Landärzte tun sich schwer, im Alter einen Nachfolger für ihre Praxis zu finden. Gottfried Hagitte ist deshalb wieder in seinen Beruf eingestiegen.

(Foto: Dietrich Mittler)

Er ist der Nachfolger seines eigenen Nachfolgers: Hausarzt Gottfried Hagitte ging 1999 in Rente. Jetzt ist er 83 und praktiziert wieder - denn kein junger Arzt will in der Rhön in die Praxis einsteigen.

Von Dietrich Mittler

"Ja, der Ruhestand, der war gar nicht so schlecht", sagt Gottfried Hagitte bisweilen. Zeit haben für seine Frau, für Familienbesuche und entspannte Urlaubsfahrten. Und endlich mal Tischtennis spielen können, ohne immer auf die Uhr schauen zu müssen - vom Lesen, Wandern, Schwimmen und Fahrradfahren gar nicht zu reden. Aber diese Zeiten sind vorbei.

Bald 84 Jahre alt, steht er nun schon seit 8.30 Uhr im weißen Kittel in der vertrauten Hausarztpraxis, die gestreifte Krawatte exakt gebunden und das Stethoskop lässig um den Hals gelegt. Geplant war das so nicht. Aber als Gottfried Hagittes Nachfolger mit 46 Jahren so schwer erkrankte, dass er aufhören musste, da war die Angst groß, dass sein Kassenarztsitz verloren gehen könnte. Da spürte Hagitte "eine ethisch-moralische Verpflichtung", wieder einzusteigen, der Patienten wegen.

Die Patienten sind das Wichtigste

"Man kann sich da doch nicht in den Lehnstuhl zurücklehnen und tatenlos zuschauen", sagt er, und sein freundlicher Blick wird für einen ganz kurzen Augenblick streng. Zwar ist aus seiner früheren Einzelpraxis längst eine Gemeinschaftspraxis geworden, und die Kollegen haben technisch alles auf den neuesten Stand gebracht - doch sie mussten feststellen: Es findet sich kein junger Arzt, der in einem Landstädtchen mit rund 4800 Einwohnern zu arbeiten anfangen will. "Bewirb du dich um den Kassenarztsitz. Wir haben gut 4000 Euro in Annoncen gesteckt - ohne Rückmeldung", sagten sie zu ihm.

Hagitte ließ sich nach Jahren des Ruhestands nicht zweimal bitten. Immerhin hatte er seit seiner Pensionierung die Urlaubsvertretung für die beiden Kollegen übernommen. Nun wurde er der Nachfolger von seinem Nachfolger. Um seine besorgte Frau zu beruhigen, beschloss er, nur noch halbtags zu arbeiten. Das ist der Plan, aber nicht unbedingt die Realität. Oft genug verlässt er die Praxis erst am späten Nachmittag - nachdem er 30 bis 40 Patienten behandelt hat.

Die Doktores Hagitte und der Ruhestand, das ist überhaupt so eine Geschichte für sich. Der Vater des 83-Jährigen war auch Landarzt, im sächsischen Strehla. Er blieb es bis zu seinem Tod. "Noch heute rufen hier Leute an und erzählen mir Geschichten, die sie mit ihm erlebt haben", sagt Hagitte. Während eine Sprechstundenhilfe einen stämmigen Mann, weitaus jünger als der Doktor, auf seinem Rollator zum EKG schiebt, kommt Hagitte auf sein Verhältnis zu Horst Seehofer zu sprechen. Anfangs war er richtig sauer auf den früheren Bundesgesundheitsminister, weil der eine Altersbeschränkung für Ärzte einführte, die dazu führte, dass 1999 ein Dr. Hagitte mit 68 Jahren in Ruhestand gehen musste.

Zum Ruhestand gezwungen

Er hat dem heutigen bayerischen Ministerpräsidenten aber relativ schnell verziehen: "Im Nachhinein war ich Herrn Seehofer dankbar", sagt er, denn von allein hätte er den Sprung nie geschafft, aufzuhören. "Dadurch wurde mir ein Freiraum geschenkt, den ich Zeit meines Lebens nie hatte", sagt Hagitte. Seehofer habe es ja letztlich gut gemeint: "Damals stauten sich die jungen Ärzte, und zu viele alte saßen in den Praxen", sagt er. Und dann muss er doch schmunzeln, auch wenn die Gesamtsituation dazu keinen Anlass gibt.

Mittlerweile geben die Bürgermeister von Landgemeinden Tausende Euro aus, um über Annoncen einen Arzt zu finden - meist vergeblich. "Jeder vierte Hausarzt in Bayern ist mehr als 60 Jahre alt und wird demnächst in den Ruhestand gehen", sagt Dieter Geis, der Chef des Bayerischen Hausärzteverbandes. Immer mehr Praxen schlössen für immer, weil sie keinen Nachfolger finden. Auf dem heute beginnenden Hausärztetag in Nürnberg wird das eines der bestimmenden Themen sein.

Das Produkt der eigenen Zeit

Dass junge Ärzte nicht mehr so arbeiten wollen, wie er das in den zurückliegenden 50 Jahren getan hat, dafür hat Hagitte Verständnis. Sein eigener Sohn, Hausarzt in Bad Brückenau, habe ihm gesagt: "Nein, da geht kein Weg hin." Sein eigener Vater sei in Bezug auf die Arbeit noch viel "konsequenter als ich gewesen", sagt Hagitte. "Wir mussten einmal ohne ihn in Urlaub fahren, weil er einer Frau versprochen hatte, bei der Geburt ihres Kindes anwesend zu sein." Jeder Mensch, so seine Theorie, sei wohl das Produkt seiner Zeit. "Wenn ich heute ein junger Arzt wäre, würde ich wohl auch anders denken", ist er sich sicher. Aber dass er so arbeiten konnte, wie er es tat, das habe er letztlich seiner Frau Hildegard zu verdanken, die ihm als Krankenschwester oft genug den Rücken freihielt.

Der Vergangenheit nachzutrauern, das kommt Hagitte jedoch nicht in den Sinn. Als er 1963 in Bischofsheim als Hausarzt anfing, hatten die meisten Menschen kein Telefon im Haus, um in Notfällen den Arzt zu rufen. Im ganzen Altlandkreis Neustadt an der Saale waren gerade einmal zwei Krankenwagen stationiert. "Die Medizin hat sich ganz entscheiden gewandelt", sagt er, "Gott sei Dank." Durch Fortbildungen hält er sich stetig auf dem Laufenden. "Früher, da waren die Leute hilflos. Bis ein Arzt bei ihnen eintraf, vergingen oft ein, zwei Stunden", erinnert er sich.

In Bischofsheim an der Rhön und in den umliegenden Gemeinden ist der Herr Doktor eine Institution, gut drei Generationen kennt er als praktischer Arzt und Geburtshelfer von Kindesbeinen an. Zu vielen sagt er heute noch du, und die sind bereits selbst Großeltern. Das enge Verhältnis, das sich da entwickelt hat, war mit der Grund, dass Hagitte erneut die Zulassung als Kassenarzt beantragte. Das ging, weil die Seehofer-Regelung längst außer Kraft gesetzt wurde. "Hier genieße ich großes Vertrauen. Wenn man als Patient normal in eine Praxis kommt, und da sitzt dann ein 83-jähriger Herr im weißen Kittel, dann sagt man doch: 'Hier bin ich wohl im falschen Zug!'"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: