Ausstellung im Museum Oberschönenfeld in Gessertshausen:Kraft der Gedanken

Ausstellung im Museum Oberschönenfeld in Gessertshausen: "I' m a Model" heißt die Fotoserie mit Angela Jansen, die im Rollstuhl sitzt und seit Jahren nur noch mit ihren Augen kommunizieren kann.

"I' m a Model" heißt die Fotoserie mit Angela Jansen, die im Rollstuhl sitzt und seit Jahren nur noch mit ihren Augen kommunizieren kann.

(Foto: Adi Hoesle / Martin Jepp, VG Bild-Kunst Bonn 2023)

Der Konzeptkünstler Adi Hoesle setzt sich mit der Frage auseinander, wie ein Kunstwerk im Kopf eines Menschen entsteht. Er hat eine Methode entwickelt, die vor allem für Menschen hilfreich ist, die in ihrem gelähmten Körper eingeschlossen sind.

Von Sabine Reithmaier, Gessertshausen

Retrogradist ist eine ungewöhnliche Berufsbezeichnung. Adi Hoesle hat sie sich patentieren lassen. Der Begriff beschreibt exakt, um was es dem Künstler, einem Grenzgänger zwischen Kunst und Wissenschaft, geht. "Mich hat immer interessiert, ob man ein Kunstwerk zurück in den Kopf verfolgen kann", sagt er. Ein Werk entsteht im Kopf, bevor es mit Pinsel, Bleistift, Hammer oder Meißel übersetzt wird. Aber braucht Kunst die klassische Form der Materialisierung überhaupt? Oder kann man etwas präsent machen, obwohl es absent ist? Fragen wie diese treiben Hoesle seit fast 30 Jahren um und zu immer wieder neuen Projekten an.

Auf den Punkt brachte er seine Fragen 2004 in den "Subduktiven Maßnahmen". Den 50. Jahrestag der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten nahm er zum Anlass, um 50 Gegenwartskünstler, darunter Andreas Gursky, Jörg Immendorff, Jonathan Mese, Karin Sander oder Christoph Schlingensief, zu bitten, ein Werk zu spenden.

Diese Arbeiten wurden unter notarieller Aufsicht in Metallbehältern verschlossen und nach einer Ausstellung in der Bonner Kunsthalle - "da wurden nur die versiegelten Edelstahlgefäße gezeigt" - im Barbarastollen, dem zentralen "Bergungsort" der Bundesrepublik für Kulturgut, in der Nähe von Freiburg eingelagert. Niemand habe die Arbeiten je gesehen, sagt Hoesle. Aber durch die Unterbringung im Stollen seien sie als wichtiges deutsches Kulturgut ausgewiesen. "Stellt sich die Frage, ob das, was im Kopf der Betrachter passiert, schon das Kunstwerk ist?"

Einblick in Hoesles Gedankenwelten bietet derzeit eine sehenswerte Sonderausstellung im Museum Oberschönenfeld in Gessertshausen. "Ich male, also bin ich" lautet der Titel der Schau. Aber Gemälde oder Zeichnungen entdeckt man erstmal nicht. Es gibt sie, doch zunächst faszinieren die großformatigen Fotos, die eine beeindruckend schöne, unglaublich präsente Frau zeigen. Sie sitzt in einem Rollenstuhl. Durch eine Störung des motorischen Nervensystems, bekannt als amyotrophe Lateralsklerose (ALS), kann Angela Jansen seit Jahren nur noch mit ihren Augen kommunizieren. Sie steuert ihren Sprachcomputer durch die Bewegung ihrer Pupillen, ihr übriger Körper ist gelähmt, seit 1998 wird sie beatmet.

Ausstellung im Museum Oberschönenfeld in Gessertshausen: Adi Hoesle begreift sich als Grenzgänger zwischen Kunst und Wissenschaft.

Adi Hoesle begreift sich als Grenzgänger zwischen Kunst und Wissenschaft.

(Foto: Christine Hofmann, Museum Oberschönenfeld)

Hoesle arbeitet seit vielen Jahren mit der Berlinerin zusammen. Und sie hatte 2018 sofort Lust auf die Fotosession, die zur Serie "I' m a Model" führte. "Wir haben ein Studio angemietet, einen Modefotografen und eine Visagistin engagiert", berichtet Hoesle. Jansen entschied, wie sie gekleidet und geschminkt werden wollte, ob mit Hut oder ohne, ob offenes Haar oder aufwendige Hochsteckfrisur. Nur wer genau hinsieht, entdeckt die Inszenierung, sieht, dass der Kopf gestützt, die elegant gespreizten Finger stabilisiert werden müssen.

Die Entstehung der Fotos sei eine einzige große Performance gewesen, sagt der Künstler. Er war, bevor er Kunst in München und an der freien Kunsthochschule Nürtingen studierte, Anästhesiepfleger in einer neurochirurgischen Station, dem menschlichen Gehirn also schon immer ziemlich nah. Während seiner Suche nach dem Entstehungsort eines Kunstwerkes und dem Übergang von der Idee zur Materialisierung hat er mit vielen Wissenschaftlern und Technikern zusammengearbeitet, besonders intensiv mit Andrea Kübler vom Institut für Psychologie der Universität Würzburg, die seit mehr als 20 Jahren das Brain-Computer-Interface erforscht, das es Gelähmten ermöglicht, zu schreiben und zu sprechen.

Ausstellung im Museum Oberschönenfeld in Gessertshausen: Mit Modefotograf und Visagistin: Die Fotos mit Angela Jansen sind aufwendig inszeniert.

Mit Modefotograf und Visagistin: Die Fotos mit Angela Jansen sind aufwendig inszeniert.

(Foto: Adi Hoesle / Martin Jepp, VG Bildkunst Bonn 2023)

Hoesle nutzte die Gehirn-Computer-Schnittstelle, um "Brainpainting" zu erfinden, das Malen allein durch die Kraft der Konzentration. Dazu habe ihn ein Gespräch mit dem ebenfalls an ALS erkranktem Jörg Immendorff im Jahr 2004 motiviert, sagt Hoesle. "Ich wollte für ihn eine Option des Malens entwickeln." Doch als das Programm funktionierte, war es für den Maler zu spät, er starb 2007.

An ihn erinnert in der Ausstellung eine Skulptur: seine aus Holz gefrästen Hirnströme, die während des Malens durch ein Elektroenzephalogramm (EEG) erfasst wurden. Auch Angela Jansen reagiert mit Brainpainting kreativ auf ihre Umgebung. Inzwischen hat Hoesle ihre Standardsätze - meist Bitten an die Pfleger, dieses oder jenes zu erledigen - durch eine gehörlose Frau in Gebärdensprache übersetzen lassen und sie dabei gefilmt. Das wirkt, als sei die Bewegung der Hände der Ursprung aller Zeichnung.

Im Obergeschoß läuft die Multimediainstallation "Styx": Sie erzählt von Sebastian, der mit elf Jahren an ALS erkrankte und mit 18 Jahren starb. Hoesle lernte den Jungen 2006 kennen, schon im Locked-in-Status. Der Vater, der den Sohn Tag und Nacht pflegte, bat ihn, einen Film über sein Kind zu drehen. "Er hat zigmal angerufen, aber ich hatte das Gefühl, ich kann das nicht, ich war da emotional viel zu sehr verwickelt." Er bat den Vater, eine Kamera am Kopf von Sebastian zu befestigen, eine Art verlängertes Auge. Als der Junge starb, übergab ihm der Vater 8000 Fotos und 72 Filme. "Ein unglaubliches Kontingent", erinnert sich der Künstler.

Ausstellung im Museum Oberschönenfeld in Gessertshausen: Eine Collage aus vier Filmen ist die Videoinstallation "Styx".

Eine Collage aus vier Filmen ist die Videoinstallation "Styx".

(Foto: Adi Hoesle, VG Bild-Kunst, Bonn 2023)

Er zog sich auf eine Berghütte in der Schweiz zurück, sichtete und ordnete das Material. Entstanden ist eine 15 Minuten lange Videoinstallation, benannt nach dem Fluss, der in der griechischen Mythologie die Grenze zwischen den Lebenden und dem Totenreich markiert. "Schließlich war für uns nie klar, ob Sebastian noch im Diesseits oder schon mehr im Jenseits weilte", sagt Hoesle. Die Collage aus vier Filmen zeigt die Welt aus der Sicht des Jungen: Geschwister und andere Besucher, einmal ein Baby, das ihn neugierig mustert. Immer wieder das Ende des Betts, die Zimmerwände, aber auch Ausflüge im Auto des Vaters.

In den letzten Jahren hat sich Hoesle intensiv mit dem Braille-Alphabet auseinandergesetzt. "Wir sehen die Schrift, können sie aber nicht lesen. Der Blinde sieht sie nicht, kann sie aber lesen." Im Video "Die blinde Vorleserin", aufgenommen aus der Sicht einer Blinden, folgt der Zuschauer den Händen einer Frau, die einen Brailletext abtasten; sie liest drei Verse aus Else Lasker-Schülers erstem Gedichtband "Styx". Irgendwann beginnen die Punkte, lauter kleine Kunststoffgehirne, unter ihren Händen zu tanzen, der Text verdichtet sich durch ständige Überlagerungen. Das Video entstand gleich nebenan im Volkskundemuseum, dort hängt Hoesles großformatige Braille-Arbeit in der Ausstellung "Über Grenzen".

Wenn der 64-jährige Hoesle Zweifel am eigenen künstlerischen Tun hat, zieht er sich in sein Atelier in Babenhausen (Unterallgäu) zurück und malt und zeichnet. Da er sich so weit in die Wissenschaft hineinwage, müsse er sich gelegentlich schon hinterfragen, ob er noch Kunst mache oder mehr Wissenschaft, sagt er. Dann entstehen aquarellierte "Walking brain" oder fein nuancierte EEG-Hauben. Wirklich los lässt ihn sein Thema auf jeden Fall nie.

Adi Hoesle: Ich male, also bin ich. Bis 23. April, Sonderausstellung Schwäbische Galerie im Museum Oberschönenfeld, Oberschönenfeld 4, 86459 Gessertshausen.

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