Abtreibung:Der letzte Hexenprozess

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Der Angeklagte Horst Theissen (re.) mit seinem Anwalt Wolfgang Kreuzer vor Gericht. (Foto: dpa)

Vor 25 Jahren wurde der Memminger Arzt Horst Theissen wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche und Steuerhinterziehung verurteilt. Den Beteiligten hängt der Prozess bis heute nach.

Von Christian Rost

Sie hat abgetrieben und drei Kinder bekommen, eines mit Behinderung. Und weil Magdalena Federlin, mittlerweile 58 Jahre alt, aus Aichach in Schwaben, sich selbst dafür entschied, wann sie Mutter werden wollte und wann nicht, hat sie eine bemerkenswerte Vita. Ende der Achtzigerjahre war sie die einzige Frau, die sich im sogenannten Hexenprozess nicht der Staatsgewalt beugte und wegen eines Schwangerschaftsabbruchs beim Memminger Frauenarzt Horst Theissen weder einen Strafbefehl noch eine Geldstrafe akzeptierte. Federlin nahm den Kampf durch die Instanzen auf und wurde freigesprochen. Rückblickend sagt sie: "Theissen hatte Mumm. Er hätte 1000 Ehrenabzeichen verdient." Die aber hat er nie bekommen - im Gegenteil.

Horst Theissen ist heute 80 Jahre alt und von der Bildfläche verschwunden. Niemand weiß, wo er steckt. Zunächst zog er nach Hessen, um sich mit einer Naturheilpraxis eine neue Existenz aufzubauen, dann ging er nach Südtirol in die Gegend von Bozen. Im Allgäu wurde er zuletzt vor einigen Jahren gesehen, als er bei der Festwoche in Kempten Kräuteröl verkauft haben soll. Gleichwohl hat er Spuren hinterlassen, die groß genug sind, um Rechtsgeschichte zu schreiben.

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Ein letztes Mal vor Gericht und somit im Licht der Öffentlichkeit stand der Mann mit markanter Nase und grauem Bart nach jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen am 12. Januar 1994 - vor 25 Jahren also. Das Augsburger Landgericht verurteilte ihn nach erfolgreicher Revision beim Bundesgerichtshof zu einer eineinhalbjährigen Haftstrafe auf Bewährung wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche und Steuerhinterziehung. Selbst der Augsburger Oberstaatsanwalt Jörg Hillinger bescheinigte Theissen letztlich nach dem jahrelangen Ritt durch die Instanzen, er sei ein "fürsorglicher Arzt" gewesen, "wie man ihn sich wünscht". Magdalena Federlin ließ sich davon nicht beirren, und sie ließ sich auch nicht auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft ein.

1988 war Theissen in Memmingen buchstäblich vor Gericht gezerrt worden. Seine fehlerhaften steuerlichen Abrechnungen wurden - so vermuten es seine Anhänger - als Vehikel genommen, um ihn als Abtreibungs-Arzt aus dem Verkehr zu ziehen. Das Finanzamt hatte nach einer anonymen Anzeige seine Patientenakten einfach an die Justiz weitergereicht, woraufhin das Verfahren gegen den am Niederrhein in katholischen Verhältnissen aufgewachsenen Theissen in Gang kam. Mit ihm als Angeklagtem wurden 156 Frauen als Zeuginnen in Memmingen vorgeladen, etwa die Hälfte der Frauen musste in entwürdigender Weise aussagen.

Sogar die Adressen sämtlicher Patientinnen wurden in dem Prozess öffentlich verlesen, an dessen Ende Theissen zunächst zu zweieinhalb Jahren Haft und einem dreijährigen Berufsverbot verurteilt wurde. Fast alle Frauen zahlten die in Strafbefehlen verhängten Geldstrafen von umgerechnet 900 bis 3000 Euro. Sie hätten "keinen Staub aufwirbeln wollen", so eine Anwältin. Proteste mit Teilnehmern aus ganz Deutschland begleiteten den Prozess, während ein Pfarrer aus Furcht vor den "Chaoten" seine Kirche verrammelte und ein Gottesdienst unter den Motto "Für das Leben" abgehalten wurde.

Die Grünen-Politikerin Margarete Bause bezeichnete das Verfahren damals als "mittelalterlichen Hexenprozess". Auch heute noch steht der Begriff "Hexenprozess" für den Fall Theissen und für die jurischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Abtreibungs-Paragrafen 218: "Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."

Demonstranten forderten während des Gerichtsverfahrens die Abschaffung des Abtreibungs-Paragrafen 218. (Foto: Dominik Obertreis/dpa)

Die Staatsanwaltschaft warf dem Mediziner damals vor, dass er in seiner Praxis weiter ambulant Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen habe, obwohl dies - anders als in norddeutschen Bundesländern - nicht mehr erlaubt gewesen sei. Frauen sollten sich den Eingriffen, das galt für Bayern und Baden-Württemberg, ausschließlich in Kliniken unterziehen. Nach der obligatorischen Beratung war dafür ein dreitägiger Aufenthalt vorgesehen.

"Wir wurden in die Illegalität des Abbruchs getrieben", sagt Magdalena Federlin. Gerade Frauen vom Land hätten sich nicht drei Tage in eine Klinik legen können, um eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Aus welchen Motiven heraus die Frauen eine Abtreibung auch immer vorgenommen hätten - nach einem Seitensprung, einer Vergewaltigung, einer drohenden Missbildung oder weil sie wirtschaftlich nicht in der Lage gewesen seien, ein Kind großzuziehen: Der ambulante Abbruch war für sie oft die einzige Möglichkeit, eine Schwangerschaft zu verbergen. "Doktor Theissen war damals mit seinen ambulanten Eingriffen ein Segen für die Frauen in Süddeutschland", sagt Federlin.

Sie ist eine selbstbewusste Frau, die in ihrem Heimatort einen Bioladen betreibt und sich für die Grünen im Kreistag von Aichberg-Friedberg und auch im Gemeinderat engagiert. Sie hatte bereits einen einjährigen Sohn, als sie wieder schwanger wurde und gerade ihr Geschäft aufbaute, und entschied sich gegen das Kind. "Ich war 24 Jahre alt, es war mein Körper, und ich bin die Mutter. Da hat mir niemand was reinzureden." Später bekam sie noch zwei Buben, einen mit einem "Halb-Down-Syndrom", wie sie es bezeichnet.

Für den heute 23-Jährigen focht sie einen mindestens so schweren Kampf aus wie im "Hexenprozess". Federlin kämpfte über all die Jahre für eine gute Integration ihres Kindes. "Inklusion" sei, sagt sie, "auch in der heutigen Zeit nur ein Versprechen auf dem Papier". Behinderte würden in Betreuungseinrichtungen abgeschoben und nach wie vor von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Da rannte also eine Mutter, die abgetrieben hatte, gegen Wände an: "Ich fühle mich bei all diesen gesellschaftlichen Fragen nicht ernst genommen", sagt sie. "Wir sind weit weg von einer guten Lösung." Mittlerweile habe sie sämtliche behördlichen Unterlagen aus dem "Hexenprozess" und auch die, die sie bei ihrem Eintreten für eine bessere Inklusion angehäuft hatte, entsorgt: "Ich konnte den Bundesadler auf den Akten einfach nicht mehr sehen", sagt Federlin. "Das alles war kein kleiner Spaziergang, das war seelischer Schmutz."

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Der Fall Theissen war für Wolfgang Kreuzer "der wichtigste Prozess meines Lebens". Kreuzer gehörte zum Verteidigerteam des Frauenarztes. Allein neun Monate lang dauerte der erste Strafprozess am Landgericht Memmingen. Heute gelte die Fristenregelung bei Schwangerschaftsabbrüchen, "der Text im Gesetz ist nicht mehr auslegungsfähig", sagt der Anwalt. Damals aber konnten sich die Gerichte - durchaus auch angeleitet von Glaubensfragen beziehungsweise moralischen Einwänden - innerhalb einer gewissen Bandbreite bewegen bei ihrer Urteilsfindung.

So ist die Widersprüchlichkeit noch heute nicht ausgeräumt bei den Entscheidungen ums Kinder kriegen oder nicht kriegen. Zu Kreuzers Mandanten gehört ein Münchner Frauenarzt, der weiter Abtreibungen vornimmt. Der Mann darf nicht auf seiner Internetseite darüber informieren, dass er diese Eingriffe vornimmt. Gleichwohl wird er aus kirchlichen Kreisen heraus massiv angefeindet. Die Aktivisten demonstrieren regelmäßig vor seiner Praxis. Einmal wurde er sogar beschuldigt, Demonstranten mit dem Auto absichtlich attackiert zu haben. Der Vorwurf stellte sich als falsch heraus, das Verfahren am Amtsgericht München wurde eingestellt.

Auch alle anderen Ärzte und Kliniken sind mit dem "Werbeverbot für Abtreibungen" nach Paragraf 219a belegt. Der Gesetzgeber hat es folglich auch 25 Jahre nach dem Ende des "Hexenprozesses" nicht geschafft, mit Schwangerschaftsabbrüchen lebensnah umzugehen. "Kein Arzt wirbt doch dafür, dass Frauen Abbrüche vornehmen sollen", sagt der Jurist Kreuzer. Es gehe nur darum, zu informieren, welche Mediziner kontaktiert werden könnten. Doch schon dies ist Teilen der Gesellschaft anscheinend nach wie vor nicht zuzumuten.

Den Memminger Prozess leitete Albert Barner. Der einstige Vorsitzende Richter der Großen Strafkammer ist längst im Ruhestand. Doch auch mit 91 Jahren erinnert er sich noch gut an das Verfahren, über das es in der Berichterstattung einige "Fake News" gegeben habe, wie er sagt. Seine Kammer jedenfalls habe sich bei der Urteilsfindung nicht von politischen Einflüsterungen leiten lassen, betont Barner. "Wir haben uns an den Gesetzen, der vorausgegangenen Rechtsprechung orientiert und das Urteil als guten Kompromiss angesehen." Der Richter im Ruhestand räumt ein, dass die Gesetzeslage hinsichtlich Schwangerschaftsabbrüchen heute sehr viel eindeutiger sei. "Die Wertungen und Auslegungen sind weggefallen", sagt er und fügt einen Satz an, der die beschränkten Möglichkeiten der Justiz zusammenfasst: "Das Leben und das Sterben sind Grenzbereiche."

© SZ vom 12.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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