Nach der im Oktober durch das Innenministerium verhinderten Abschiebung eines Iraners in Passau wird in Bayern erneut eine umstrittene Ausweisung gestoppt. Die für Ende November geplante Abschiebung eines berufstätigen und seit acht Jahren in Deutschland lebenden Äthiopiers in Garmisch-Partenkirchen findet nicht statt. Wie das Garmischer Landratsamt auf SZ-Anfrage bestätigt, darf der 40-jährige Muhamed B. vorerst mit einer Duldung in Deutschland bleiben und könnte demnächst von einer Gesetzesänderung profitieren. Der abgelehnte Asylbewerber wurde am 18. Oktober in Abschiebehaft genommen - obwohl ihm die Ausländerbehörde kurz zuvor eine Beschäftigungserlaubnis als Hilfskraft in der Produktion zugesichert hatte ( die SZ berichtete). Seine Freilassung könnte auch Folgen für andere Abschiebungen in Bayern haben.
Der Bayerische Flüchtlingsrat und die Münchner Anwältin Anna Frölich hatten die Umstände der geplanten Abschiebung kritisiert und betont, dass es sich bei Muhamed B. um einen gut integrierten Geflüchteten handele, der bald unter das neue Chancen-Aufenthaltsrecht der Bundesregierung fallen könnte. "Er ist gut integriert, spricht Deutsch, arbeitet, ist sogar mit einer deutschen Staatsbürgerin verlobt. Und er ist kein Straftäter", sagte Frölich, die juristisch gegen die Ausweisung vorging.
Auf SZ-Anfrage Mitte November hatten sowohl das Garmischer Landratsamt als auch das bayerische Innenministerium an der Richtigkeit der Abschiebung festgehalten und keinen Grund zur Beanstandung gesehen. Nun die Kehrtwende. Laut eines Sprechers des Landratsamts habe ein 23 Jahre altes Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Stopp der Abschiebung geführt, das - Originalzitat - "allgemein nicht bekannt war". Anwältin Frölich hatte die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts vorgelegt, in der es um die Abschiebung einer Geflüchteten in Nordrhein-Westfalen ging.

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Der Text aus Karlsruhe liest sich wie eine maßgeschneiderte Entscheidungshilfe für den aktuellen Streit
Im Urteilstext (BvR 283/99) steht sinngemäß, dass Menschen nicht abgeschoben werden dürfen, wenn sie von einer "unmittelbar" bevorstehenden konkreten Gesetzesänderung profitieren würden. Der Staat müsse sicherstellen - "etwa durch Verzicht auf den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen" -, dass eine neue Regel den Betroffenen "effektiv zugute kommt". Der in Bayerns Behörden und Regierung offenbar unbekannte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts liest sich wie eine maßgeschneiderte Entscheidungshilfe im Streit um Abschiebungen von Menschen wie Muhamed B., die seit vielen Jahren in Deutschland geduldet werden und sich währenddessen eine Existenz aufgebaut haben.
"Im Fall meines Mandanten ist sonnenklar, dass er in das Chancen-Aufenthaltsrecht fällt, das demnächst im Bundestag beschlossen werden soll", sagt Frölich. Das Gesetz soll vor allem geduldeten Flüchtlingen durch ein einjähriges Aufenthaltsrecht ermöglichen, die Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu schaffen - etwa um Deutsch zu lernen, einen Job zu finden oder einen Reisepass vorzulegen. Straftäter sind davon explizit ausgeschlossen.
Diese Chance für Muhamed B. räumt inzwischen auch das Garmischer Landratsamt ein. "Sollte die Person unter die geplante Gesetzesänderung fallen, kann gegebenenfalls eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden", teilt der Sprecher mit. Am vergangenen Dienstag ist der Äthiopier nach mehr als einem Monat Haft aus der Abschiebeeinrichtung am Münchner Flughafen entlassen worden.
"Wir sind glücklich, dass die Behörden im letzten Moment ein Einsehen hatten", sagt Anna Frölich und hofft, dass ihr Mandant nun schnell wieder arbeiten darf. Zu seinem ersten Termin im Landratsamt sei B. mit großer Verunsicherung gegangen, erzählt die Juristin. Schließlich habe er sich schon mal auf ein Versprechen der Behörde verlassen - wenig später saß er in einer Abschiebezelle. Ob ihm eine Entschädigung zusteht, sei noch offen.

Asylpolitik:Schlechte Nachrichten für Geflüchtete in Bayern
In Garmisch soll ein berufstätiger Äthiopier abgeschoben werden, der demnächst von einem neuen Bundesgesetz profitieren könnte. Das ist kein Einzelfall. Will der Freistaat noch schnell Menschen loswerden, die bald eine echte Bleibeperspektive hätten?
"Die Bundesregierung beschließt sehenden Auges eine massive Belastung der Sozialsysteme", so das Innenministerium
Der Fall Garmisch ist ein Signal für ganz Bayern. Frölich, Fachanwältin für Migrationsrecht, erkennt sogar einen Präzedenzfall. Bislang lehnt es die Staatsregierung ab, wie andere Bundesländer auf Abschiebungen zu verzichten, die sich mit dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht ohnehin bald erübrigt hätten. Schließlich hält die Koalition aus CSU und Freien Wählern das Gesetz für falsch, wie das Innenministerium mitteilt: "Mit dem geplanten Chancen-Aufenthaltsrecht werden keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen: Die Bundesregierung beschließt sehenden Auges eine massive Belastung der Sozialsysteme." Wirtschaftsverbände erhoffen sich hingegen Impulse im Kampf gegen den Personalmangel.
Kritiker warfen der bayerischen Regierung zuletzt vor, "im Eiltempo" Menschen abzuschieben, die bald eine Bleibeperspektive hätten. Das sei "unverständlich und inhuman", sagte zum Beispiel Gülseren Demirel, asylpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag. Das Innenministerium bestreitet den Vorwurf, er sei durch Zahlen nicht gedeckt. Welche Konsequenzen der Fall Garmisch nun tatsächlich für die Abschiebepraxis hat, konnte ein Ministeriumssprecher auf Nachfrage am Freitagnachmittag nicht sagen. Man müsse den Sachverhalt erst genau prüfen und könne keine Pauschalaussage treffen. Über jede Abschiebung werde im Einzelfall entschieden.
Aber eines ist klar: Nach der überraschenden Entscheidung des Garmischer Landratsamts werden Flüchtlingshelfer und Fachanwältinnen jede einzelne Abschiebung nun noch genauer unter die Lupe nehmen. Mit dem 1999er-Urteil aus Karlsruhe haben sie ein neues, gewichtiges Argument in der Hand.