Sexuelle Übergriffe:"Es passiert selten in der engen verwinkelten Gasse"

Sexuelle Belästigung von Frauen

Erst seit 2017 gibt es den Straftatbestand der sexuellen Belästigung.

(Foto: dpa)
  • In ganz Bayern wurden im vergangenen Jahr 1794 Fälle von sexueller Belästigung zur Anzeige gebracht - überwiegend von Frauen.
  • Den Straftatbestand der sexuellen Belästigung gibt es erst seit 2017. In dem Jahr wurden 1250 Fälle zur Anzeige gebracht.
  • Weil der Vorwurf jedoch schwer zu beweisen ist, hat lediglich jeder fünfte Übergriff ernsthafte Konsequenzen.

Von Claudia Henzler, Nürnberg

Da ist die junge Frau, die um sechs Uhr abends mit ihrem Freund und dem Kinderwagen die Fürther Straße entlangspaziert und urplötzlich angegrapscht wird - von einem Jugendlichen, der anschließend davonrennt. Oder jene Frau, der ein Unbekannter ganz unvermittelt auf dem Weg zum U-Bahnhof von hinten zwischen die Beine fasst. Sie sind nur zwei von 264 Opfern sexueller Belästigung, die im Jahr 2018 allein beim Polizeipräsidium Mittelfranken aktenkundig wurden. In ganz Bayern wurden im vergangenen Jahr 1794 Fälle von sexueller Belästigung zur Anzeige gebracht - überwiegend von Frauen. In den meisten Fällen kennen sich Opfer und Täter nicht, sagt Heike Krämer. Die Kriminalhauptkommissarin arbeitet beim Polizeipräsidium Mittelfranken als Kontaktperson für die Opfer von Sexualdelikten.

In der bayerischen Kriminalstatistik sind sexuelle Belästigungen im Vergleich zu Diebstählen (155 924) oder Rauschgiftkriminalität (55 017) nur ein kleiner Posten. Dennoch ist die Zahl bedeutsam. Denn erstmals dokumentiert sie, was Frauen bisher zwar als real existierende Bedrohung wahrgenommen haben, aber nicht belegen konnten: In Bayern werden statistisch gesehen jeden Tag fünf Frauen aus sexuellen Motiven ohne Zustimmung an Brust, Po oder im Schritt angefasst.

Der neue Straftatbestand der sexuellen Belästigung taucht 2017 erstmals in der Kriminalitätsstatistik auf, die Zahlen galten aber im ersten Jahr als noch nicht aussagekräftig (1250 Fälle). Im zweiten Jahr zeigte der deutlicher Anstieg, dass der neue Straftatbestand im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist.

Der Paragraf 184i schützt die sexuelle Selbstbestimmung einer Person. Bevor es ihn gab, wurden Übergriffe nur dann als Sexualdelikt verfolgt, wenn sie aus juristischer Sicht eine "Erheblichkeit" aufwiesen. Da musste der Täter schon in den Körper eindringen, mindestens aber unter die Kleidung fassen. Wer jemandem auf T-Shirt oder Hose griff, dem drohte höchstens eine Anzeige wegen tätlicher Beleidigung. In der Rechtssprechung wurde eine Verletzung des Schamgefühls und der Selbstbestimmung jedoch nicht automatisch als Ehrverletzung gewertet. Und die war letztlich Voraussetzung für eine Bestrafung wegen Beleidigung.

Nur selten kam es deshalb zu solch einem Urteil, wie es Anfang 2017 im Nürnberger Amtsgericht gesprochen wurde: Damals stand ein Mann vor Gericht, der als "Po-Grapscher vom Wöhrder See" Schlagzeilen gemacht hatte. Er hatte vor Einführung des Paragrafen 184i in einem beliebtem Erholungsgebiet reihenweise Joggerinnen im Vorbeiradeln auf den Hintern geschlagen und die weibliche Bevölkerung der Stadt zwei Sommer lang beunruhigt - sieben Fälle konnten dem Mann mittels genetischer Spuren nachgewiesen werden. Der Amtsrichter ging damals deutlich über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus und verhängte acht Monate Haft auf Bewährung, musste dies aber mühevoll begründen, wobei er auch drastische Worte einsetzte: Selbst wenn der Tatvorwurf juristisch lediglich "Beleidigung" heiße, wiege die Tat schwer, denn der Täter habe die Frauen erstens zu einer "Wichsvorlage" degradiert und damit in ihrer Ehre verletzt. Und er hätte zweitens wahrnehmen müssen, wie sehr er die ganze Stadt mit seinen Taten verunsicherte.

Richter können solche Vorfälle nun besser einordnen

Durch den neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch ist es für die Richter einfacher geworden. "Man kann das jetzt leichter einordnen", sagt Nürnbergs Justizsprecher Friedrich Weitner. "Da wurde eine Gesetzeslücke geschlossen." Bis zu zwei Jahre Haft umfasst der Strafrahmen für sexuelle Belästigung. Bei besonders schweren Fällen - wenn zum Bespiel mehrere Täter gemeinsam agieren - kann er sich auf bis zu fünf Jahre erhöhen. In der Praxis bleibt es bisher meistens bei Geldstrafen - wenn es denn überhaupt zu einem Strafverfahren kommt. Denn weil die Taten oft nur schwer zu beweisen sind, hat lediglich jeder fünfte Übergriff ernsthafte Konsequenzen. Im Gebiet der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth wurden im vergangenen Jahr 173 Verfahren wegen sexueller Belästigung begonnen. In 21 Prozent wurden die Täter verurteilt. "Das ist ein deutlich höherer Wert, als wir sonst bei Sexualdelikten haben", sagt Oberstaatsanwältin Anita Traud. In fünf Verfahren kam es sogar zu einem Freiheitsentzug.

"Es war ein wichtiger Schritt, diese sexuelle Belästigung im Gesetz verankert zu haben", findet Kriminalkommissarin Krämer. Trotz der übersichtlichen Erfolgschancen ermutigt sie die Opfer solcher Attacken dazu, jeden Fall anzuzeigen. Krämer berät nicht nur Opfer von Sexualstraftaten, sondern spricht auch bei Präventionsveranstaltungen an Schulen. "Ich appelliere dazu, grundsätzlich die Polizei zu verständigen." Denn auch wenn eine Frau den Täter nicht gut beschreiben kann, könnte es sein, dass er schon einmal auffällig wurde. Mehrere bruchstückhafte Beschreibungen erhöhen die Chancen, den möglichen Täter zu identifizieren. Außerdem könne die Polizei durch die Anzeigen Informationen darüber sammeln, wo es möglicherweise häufiger zu Belästigungen kommt - so können Polizei oder Kommune überlegen, wie sich dort das Sicherheitsgefühl verbessern lässt.

Die meisten Fälle von sexueller Belästigung ereignen sich nach Krämers Beobachtung übrigens in belebten Gebieten. "Es passiert selten in der engen verwinkelten Gasse, sondern eher da, wo sich viele Leute aufhalten." Und was die Täter angeht: Laut Statistik kommen sie aus allen Altersklassen, vom Pubertierenden bis zum Rentner.

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