Autobahnen in Bayern:Die Gier der Gaffer

Schwerer Unfall auf der A14 bei Tornau

Sensationslust sorgt an Unfallstellen für zusätzliche Gefahren. Nach einer Bundesratsinitiative sollen die Strafen dafür verschärft werden.

(Foto: Jan Woitas)
  • Immer häufiger versperren Neugierige den Rettungskräften nach schweren Unfällen auf der Autobahn den Weg.
  • Sie verlassen ihre Autos und machen Fotos und Videos von dem Unglück.
  • Zwar könnte die Polizei gegen diese Menschen vorgehen, doch meist haben die Beamten andere Prioritäten.

Von Claudia Henzler, Nürnberg

Manchmal nimmt sich die Polizei tatsächlich die Zeit und befasst sich auch noch mit Gaffern. Es ist ziemlich genau ein Jahr her, als das Auto einer Familie aus Baden-Württemberg kurz vor dem Autobahnkreuz Nürnberg-Ost von einem Lastwagen regelrecht zerquetscht wurde. Die Mutter und drei kleine Kinder waren sofort tot, der Familienvater wurde schwer verletzt aus dem Wrack geschnitten. Fast vier Stunden dauerte die Rettungsaktion, die A 6 war lange gesperrt.

Als der Verkehr schließlich auf einer Spur freigegeben werden konnte, musste die Polizei beobachten, wie etliche Fahrer mit laufender Handykamera an der Unfallstelle vorbeizuckelten. "Nachdem das überhand nahm, haben wir zwei Streifen aus einem anderen Bereich angefordert", erzählt Michael Petzold, Sprecher des Polizeipräsidiums Mittelfranken. Die Kollegen hätten dann mehr als eine Stunde lang nichts anderes getan, als Auto- und Lastwagenfahrer hinter der Unfallstelle rauszuwinken, Personalien aufzunehmen und ihnen ein Bußgeldverfahren anzukündigen.

Die Fahrt mit Handy am Steuer kann 60 Euro und einen Punkt kosten. Der extremste Fall von Gaffertum, an den sich Petzold erinnert, ereignete sich ebenfalls an diesem Tag: "Auf der Gegenfahrbahn hat ein Fahrer, der auf der linken Spur fuhr, bis zum Stillstand abgebremst und aus dem Auto rausfotografiert."

Am Montag hat die traurige Hitliste der Dreistigkeiten Zuwachs bekommen. Was sich nach einer Unfallserie zwischen dem Kreuz Nürnberg-Süd und der Ausfahrt Roth auf der A 6 abgespielt hat, qualifiziert sich durchaus für einen der Spitzenplätze. "Es war nicht nur so, dass uns die Leute mit den Handys im Weg rumgestanden sind", sagt Thomas Schertel, Sprecher der Feuerwehr Nürnberg. "Das größere Problem war, dass die Fahrer ihr Auto abgesperrt haben und vorgegangen sind." So standen verlassene Autos mitten auf der Fahrbahn. Die Retter kamen nicht durch.

Die Besitzer der leeren Autos hatten einfach mal schauen wollen, was da los ist, und mit ihren Mobiltelefonen festhalten, wie es aussieht, wenn ein Lastwagen seine Ladung verliert. Plastikflaschen und Getränkedosen hatten sich nach einem Auffahrunfall im Stau über die Straße ergossen. Tolles Motiv. Zeitweise standen "zwischen 50 und 80 schaulustige Gaffer" an der Unfallstelle herum, schätzt die Polizei.

Die Polizei könnte gegen die Gaffer vorgehen

Einige trampelten sogar mitten hindurch und mussten von Polizei und Feuerwehrleuten aufgefordert werden, sich doch bitte auf die andere Seite der Leitplanke zu begeben. Schließlich spannten Polizisten ein Absperrband, um die Neugierigen fernzuhalten. Nicht alle haben sich vom Platzverweis nachhaltig einschüchtern lassen. Sie haben dann halt von etwas weiter weg Fotos gemacht.

"Das ist ein Thema, das uns wirklich nervt und aufregt", sagt Polizeisprecher Petzold. Die Polizei hat zwar Möglichkeiten, gegen Gaffer vorzugehen und gegen Idioten, die Rettungsarbeiten behindern, aber selten die Kapazitäten, um sie auch anzuwenden. Zum Instrumentarium gegen Gaffer gehört der Platzverweis, den sie notfalls mit Haft durchsetzen kann. Hinzu kommen das Bußgeld fürs Handy am Steuer sowie Anzeigen wegen Widerstands gegen Vollstreckungskräfte oder wegen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts, wenn Bilder von Verletzten verbreitet werden. Wer die Rettungsgasse blockiert, kann mit 20 Euro belangt werden.

Kein Durchkommen für Rettungskräfte

Auch das war am Montag ein Problem, nicht nur wegen der verlassenen Fahrzeuge. Feuerwehr und Rettungskräfte mussten einige Male aussteigen und Fahrer bitten, auf die Seite zu fahren. Dabei gab es einige wilde Manöver, weil Fahrer so dicht auf ihren Vordermann aufgefahren waren, dass Rangieren kaum möglich war. Ein häufiges Problem, wie Feuerwehrsprecher Thomas Schertel beklagt. Er hat bei vergangenen Einsätzen auch schon erlebt, dass sich Autofahrer an die Feuerwehr dranhängen, weil sie glauben, dass sie so aus dem Stau rauskommen. Mit dem Ergebnis, dass die Rettungsgasse für nachfolgende Helfer verstopft wurde.

Der Bundesrat möchte die Sanktionsmöglichkeiten gegen Gaffer noch erweitern. Die Länderkammer hat im vergangenen Jahr den Entwurf für ein Gesetz vorgelegt, mit dem bestraft werden kann, "wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfeleistende der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder eines Rettungsdienstes behindert". Außerdem soll das Persönlichkeitsrecht von Toten gestärkt werden. Der Gesetzentwurf wurde im Bundestag eingebracht, dort aber noch nicht beraten.

Wie oft diese neuen Straftatbestände künftig angewendet werden, ist allerdings fraglich. "Man hat bei Unfällen dieser Größenordnung weder die Kräfte noch die Zeit, sich um so etwas zu kümmern", sagt Petzold. Am Montag beispielsweise sei niemand verwarnt worden. Dem Innenministerium liegen keine Zahlen über Gaffer vor, es führt aber eine Statistik zum Thema Rettungsgasse.

An den Zahlen sieht man, dass die Polizei tatsächlich Besseres zu tun hat, als bei einem Unfall Anzeigen in die Wege zu leiten, sagt Michael Siefener, stellvertretender Sprecher des Innenministeriums. "Die Priorität ist, an die Unfallstelle zu kommen und die abzusichern." Es seien wohl nur die besonders gravierenden Fälle, die bisher zur Anzeige gebracht wurden: zwei im Jahr 2016, vier in 2015, sieben in 2014.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat angekündigt, im Sommer mobile Sichtschutzwände zu testen. In Nordrhein-Westfalen sind solche Wände seit 2015 im Einsatz, dort rücken bei schweren Unfällen Mitarbeiter der Autobahnmeisterei aus, um einen bis zu 100 Meter langen Sichtschutz zu errichtet. Der besteht aus Metallgittern, wie man sie von Bauzäunen kennt, zusätzlich sind sie mit Folie bespannt. Anfang des Jahres zog das Land eine positive Bilanz: Man habe weniger Auffahrunfälle und weniger Probleme auf der Gegenfahrbahn registriert.

In Bayern soll in einer Testphase an besonders unfallträchtigen Autobahnabschnitten geklärt werden, welche Zaunelemente angeschafft werden sollen, wer für den Aufbau zuständig ist und ab welcher Unfallgröße der Aufwand sinnvoll ist. Polizeisprecher Michael Petzold begrüßt die Neuerung. "Wir freuen uns darüber, dass es so etwas gibt", sagt er. "Aber es ist traurig, dass man sich über so was überhaupt Gedanken machen muss."

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