100 Jahre Freistaat Bayern:Aus der Traum von einer gerechten Gesellschaft

100 Jahre Freistaat Bayern: Ob das "Freikorps Werdenfels", bestehend aus Bauern und Bürgern aus der Gegend um Garmisch, an den Kämpfen gegen die Revolutionäre beteiligt war, ist umstritten.

Ob das "Freikorps Werdenfels", bestehend aus Bauern und Bürgern aus der Gegend um Garmisch, an den Kämpfen gegen die Revolutionäre beteiligt war, ist umstritten.

(Foto: SZ photo; Bearbeitung SZ)

Nach dem Ersten Weltkrieg kamen sozialistische Politiker in Bayern an die Macht - aber nur kurz. Dann übernahmen reaktionäre Kräfte. Und bereiteten dem Nationalsozialismus den Boden.

Von Wolfgang Görl

Auf einer berühmten Karikatur aus den Zwanzigerjahren ist der bayerische König Ludwig III. zu sehen, wie er am Spätnachmittag des 7. November 1918 während seines gewohnten Spaziergangs im Englischen Garten von zwei Männern angesprochen wird, die ihm einen guten Ratschlag erteilen: "Majestät, genga S' heim, Revolution is!" Angeblich soll sich die Szene tatsächlich so abgespielt haben, aber selbst, wenn es nicht so wäre, ist sie doch gut erfunden. Der König, in einen schwarzen Mantel gehüllt und am Stock gehend, muss sich von seinen Untertanen belehren lassen, was Sache ist. Er selbst ist nicht mehr im Bilde, er spaziert wie ein pensionierter Beamter durch den Englischen Garten, während in einem anderen Stadtviertel Geschichte geschrieben wird, gewissermaßen der Schlussakt der mehr als sieben Jahrhunderte währenden Herrschaft der Wittelsbacher in Bayern.

Dort, auf der Theresienwiese, haben sich einige Zehntausend Menschen zu einer Friedensdemonstration versammelt, bei der, mehr als Kontrahenten denn als Verbündete, der bayerische SPD-Chef Erhard Auer und der Vorsitzende der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) Kurt Eisner sprechen.

100 Jahre Freistaat Bayern

Diese Woche widmen wir uns der Geschichte des Freistaats Bayern, den Kurt Eisner am 8. November 1918 in München ausgerufen hat. Vom 29. April bis zum 6. Mai finden Sie jeden Tag um 19 Uhr eine neue Folge auf SZ.de. Alle Texte finden Sie auf dieser Seite.

Es ist keine Überraschung, dass so viele Demonstranten zu der Kundgebung gekommen sind. Die Sehnsucht nach Frieden ist groß, schon allzu lange haben die Menschen unter den Folgen des mittlerweile mehr als vier Jahre tobenden Krieges gelitten. Hunger herrscht in der Stadt, die Versorgungslage ist katastrophal, zahllose Todesanzeigen mit den Namen der Gefallenen füllen die Zeitungsseiten; überall grassiert die Angst um den an die Front kommandierten Vater, Bruder, Ehemann oder Freund. An die Sieges- und Durchhalteparolen glauben nur noch gänzlich Verblendete, König Ludwig III., der als willfähriger Handlanger von Kaiser Wilhelm II. gilt, hat jegliche Autorität verspielt.

Bereits im Januar 1918 hatten die Arbeiter der Münchner Rüstungsbetriebe mehrere Tage für den Frieden gestreikt, gegen den ausdrücklichen Willen der SPD-Führung um Erhard Auer. Schon damals stand Eisner, der aus Berlin stammende Journalist und Schriftsteller, der die sozialdemokratische Unterstützung der Kriegspolitik nicht mehr mittragen wollte, an der Spitze des Ausstands. Nachdem der Januar-Streik zusammengebrochen war, geriet Eisner für einige Monate in Haft.

Nun aber ist er wieder da, entschlossen, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Während Auer, der noch am Vortag gegenüber bayerischen Ministern erklärt hatte, Eisner sei erledigt, beschwichtigend auf die Demonstranten einredet, fordert Eisner, zur selben Zeit in einer anderen Ecke der Theresienwiese sprechend, seine Gefolgsleute zum Handeln auf. Der junge USPD-Aktivist Felix Fechenbach nimmt den Faden auf und ruft in die Menge: "Wer für die Revolution ist, uns nach."

Was daraufhin folgt, schildert der Schriftsteller Oskar Maria Graf, der auch dabei ist, in seinem Roman "Wir sind Gefangene" so: "Und mit einem Schlage gerieten die johlenden Massen ins Vorwärtsdrängen. Wie eine kribbelige, schwarze Welle wälzten sich die tausend und abertausend Menschen hangabwärts auf die Straße; weiter ging es im Schnellschritt, an geschlossenen Häusern und herabgezogenen Rolläden vorbei, den Kasernen zu." Dort stoßen sie kaum auf Widerstand, im Gegenteil, viele der längst kriegsmüden Soldaten schließen sich dem Zug der Arbeiter an.

Wo Kurt Eisner den Freistaat ausruft

Im Laufe des Abends gelingt es den Aufständischen, wichtige öffentliche Gebäude wie den Hauptbahnhof, das Telegrafenamt oder den Landtag zu besetzen. Die Regierung hat die Kontrolle vollständig verloren. Im Mathäser-Bräu konstituieren sich die ersten Arbeiter- und Soldatenräte, anschließend marschiert der zum Vorsitzenden gewählte Eisner, geleitet von einer bewaffneten Garde, ins Landtagsgebäude an der Prannerstraße. Dort ruft er die Republik aus, den Freistaat Bayern: "Die bayerische Revolution hat gesiegt, sie hat den alten Plunder der Wittelsbacher Könige hinweggefegt. (...) Der, der in diesem Augenblick zu Ihnen spricht, setzt Ihr Einverständnis voraus, dass er als provisorischer Ministerpräsident fungiert."

Am folgenden Morgen flattern rote Fahnen auf den Türmen der Frauenkirche, Plakate verkünden die Proklamation der Republik, auch die Münchner Neuesten Nachrichten drucken den Text ab, dessen wichtigsten Sätze lauten: "Bayern ist fortan ein Freistaat. (...) Helft alle mit, daß sich die unvermeidliche Umwandlung rasch, leicht und friedlich vollzieht. In dieser Zeit des sinnlos wilden Mordens verabscheuen wir alles Blutvergießen. Jedes Menschenleben soll heilig sein!"

König Ludwig III. hatte sich auf Anraten seiner Minister, die um seine Sicherheit fürchteten, noch in der Nacht aus dem Staub gemacht. Er lässt sich im Auto nach Schloss Wildenwart im Chiemgau chauffieren, später sucht er Zuflucht in Österreich, auf seinen ungarischen Gütern und in der Schweiz. Keiner seiner Hofschranzen, keiner seiner Offiziere hat sich für ihn in die Bresche geworfen - die Wittelsbacher Herrschaft zerfällt morsch und mürbe wie ein verfaultes Stück Holz.

Von Morden, Macht und Rachegelüsten

Kurt Eisner beruft ein parlamentarisches Gremium ein, den "Provisorischen Nationalrat", und er stellt eine provisorische Regierung zusammen, der auch sein Kontrahent Auer als Innenminister angehört. Ohne die Mehrheitssozialisten, das weiß er, wäre der Rückhalt in der Bevölkerung zu gering. Noch aber herrscht Aufbruchstimmung, die Morgenröte einer neuen Ära leuchtet verlockend am Horizont. Auch in den übrigen industriellen Zentren, etwa in Nürnberg oder Augsburg, übernehmen Revolutionäre die Macht.

Eisner ist Pazifist, seinen Traum von einer gerechten Gesellschaft will er nicht mit Gewalt durchsetzen. Auch als Ministerpräsident bleibt er seinen ethischen Prinzipien, die der Kant'schen Moralphilosophie abgelauscht sind, treu. Nicht zuletzt deshalb steht er bald zwischen allen Fronten. Der radikalen Linken ist er zu gemäßigt, die Sozialdemokraten sehen ihn als idealistischen Schwärmer, das Bürgertum fürchtet Eisner als Vorboten des Kommunismus. Doch die Vergesellschaftung der Banken und Schlüsselindustrien steht nicht auf seiner Prioritätenliste, andere Projekte hingegen schon: Achtstundentag, Frauenwahlrecht, die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht, Völkerversöhnung.

Kurt Eisner stirbt durch Schüsse in Kopf und Rücken

Die wirtschaftliche Lage aber bleibt mies, was vor allem das Bürgertum sowie die Menschen auf dem Land mittlerweile Eisner und den Revolutionären anlasten. Die Landtagswahl am 12. Januar 1919 wird für ihn zum Debakel: Seine USPD gewinnt lediglich drei von 180 Sitzen. Die SPD erringt 61 Mandate, stärker noch ist die konservative Bayerische Volkspartei mit 66 Sitzen.

Am Morgen des 21. Februar 1919 macht sich Kurt Eisner auf den Weg zur konstituierenden Sitzung des neuen Landtags, um seinen Rücktritt zu erklären. Kurz hinter dem Promenadeplatz nähert sich von hinten ein Mann, zieht eine Waffe und schießt Eisner in Kopf und Rücken. Der erste Ministerpräsident des Freistaats stirbt. Sein Mörder, der völkisch-nationalistische Offizier Anton Graf Arco auf Valley, wird im Jahre 1920 zum Tode verurteilt - aber eigentlich sympathisiert ja die Justiz mit dem jungen Reaktionär. Die Todesstrafe wandelt man in lebenslange Haft um, und schon nach vier Jahren wird er begnadigt.

Nach der Ermordung Eisners brechen alte und neue Gräben auf. Im Landtag wird Erhard Auer von Alois Lindner, einem Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats, aus Rache angeschossen, zwei Abgeordnete kommen bei dem Attentat ums Leben. Noch am selben Tag konstituiert sich aus den Reihen der Räte ein Zentralrat, der den zum linken Flügel zählenden Sozialdemokraten Ernst Niekisch zum Vorsitzenden wählt und die Regierungsmacht für sich in Anspruch nimmt. Der revolutionären Linken steht von Mitte März an die Regierung des SPD-Mannes Johannes Hoffmann gegenüber, den der Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt hatte.

In der Nacht zum 7. März beschließt der Münchner Zentralrat die Ausrufung der "Räterepublik Baiern", woraufhin die Regierung Hoffmann ihren Sitz nach Nürnberg und später nach Bamberg verlegt. Nach dem Rücktritt Niekischs übernimmt der Schriftsteller Ernst Toller den Vorsitz des Revolutionären Zentralrats. Er ist sozialen, pazifistischen und idealistischen Werten verpflichtet, doch Zeit, diese umzusetzen, hat er nicht.

Die Kommunisten übernehmen die Macht

Am 13. April, dem Palmsonntag, kommt es am Hauptbahnhof zu einem Scharmützel mit einer konterrevolutionären "Republikanischen Schutztruppe". Nach der Niederschlagung des Putschversuchs übernehmen die Kommunisten, angeführt von Eugen Leviné und Max Levien, die Regierungsgewalt und proklamieren eine kommunistische Räterepublik nach sowjetischem Vorbild.

Die militärische Lage der Revolutionäre aber ist hoffnungslos, darüber kann auch ein Sieg der Rotarmisten gegen die Weißen Truppen in Dachau nicht hinwegtäuschen. Zudem ist die Räteregierung zerstritten, nicht zuletzt auch in der Frage, ob man mit der Regierung Hoffmann in Bamberg verhandeln solle. Mittlerweile aber hat schon die Reichsregierung in Berlin die Initiative ergriffen. Vor allem Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) möchte der Räterepublik so schnell wie möglich den Garaus machen, weshalb er nicht davor zurückschreckt, neben Reichswehreinheiten auch Freikorps unter dem Befehl des bayerischen Obersten Franz Ritter von Epp in Marsch zu setzen, eines Blutsäufers, der später als Reichsstatthalter Hitlers Karriere machen wird.

Die in die Enge getriebenen Revolutionäre reagieren ihrerseits mit Terroraktionen, deren schlimmste die Erschießung von sieben Mitgliedern der rassistischen Thule-Gesellschaft sowie dreier weiterer Geiseln im Luitpold-Gymnasium ist. Ernst Toller gelingt es immerhin, sechs andere Todeskandidaten zu retten.

Am 1. Mai beginnt der Einmarsch der Weißen Truppen, denen die Rotarmisten bei den nun folgenden Straßenkämpfen nicht mehr viel entgegenzusetzen haben. Was folgt, ist ein Massaker, dem jeder zum Opfer fällt, der im Verdacht steht, es mit den Roten zu halten. Nach jüngsten Schätzungen sterben 1200 Menschen, davon lediglich 145 im Kampf.

Bayern wird zum Sammelbecken für Antisemiten und Rassisten

Die Niederlage der Linken, das Scheitern ihres revolutionären Projekts macht den Weg frei für jene antidemokratischen, völkisch-nationalistischen Kräfte, die schon in der Prinzregentenzeit, als München noch als freizügige Kunst- und Bohemestadt leuchtete, ihr Unwesen trieben. Anstatt Versöhnung anzustreben, toben diese ihre Rachegelüste aus. Die Regierung Hoffmann, der Sozialdemokraten sowie Mitglieder der Bayerischen Volkspartei und der Deutschen Demokratischen Partei angehören, gerät zunehmend unter Druck der rechten Kreise und gibt nach einem Jahr auf.

Am 16. März 1920 übernimmt Gustav Ritter von Kahr die Regierung, unter dessen Ägide sich Bayern zum Sammelbecken für Rechtsextreme, Antisemiten, Rassisten und Faschisten entwickelt. Kahr prägt den Begriff der "Ordnungszelle Bayern", die als Bollwerk gegen Berlin fungieren soll, das als Hochburg babylonischer Völkervermischung, zersetzender Avantgardekultur und demokratischen Parteienstreits verächtlich gemacht wird.

Geheimbünde wie die "Organisation Consul" können nun mit stillschweigender Duldung des Münchner Polizeipräsidenten Ernst Pöhner politische Morde begehen, zur Rechenschaft gezogen werden sie dafür kaum, und wenn doch, finden sie milde Richter. Künstler und Intellektuelle, die sich der Moderne verpflichtet fühlen, verlassen scharenweise die Stadt Richtung Berlin, zurück bleiben die Republikfeinde, die in Bierkellern Hass predigen und gegen die Demokratie wettern.

Nichts erinnert mehr an die "Atmosphäre von heiterer Sinnlichkeit", die München, so beschreibt es der Schriftsteller Thomas Mann im Rückblick, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mal ausgezeichnet hatte. Die von aggressiver Spießigkeit geprägte Ordnungszelle bietet die idealen Bedingungen für rechtsextremistische Parteien wie die junge NSDAP. Deren Bierkelleragitator Adolf Hitler findet zunehmend Gehör und Anhänger - auch in besseren Kreisen. Damit beginnt der Wandel zur "Hauptstadt der Bewegung".

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