100 Jahre Freistaat:Wie die Bayern ihre Bräuche entwickelt haben

Pilgrims Celebrate Ascension At Birkenstein
(Foto: Getty Images; Bearbeitung SZ)

Die Menschen im Freistaat haben stets Traditionen aus aller Welt in ihre Kultur integriert. Die Sitten und Riten wandeln sich bis heute - und es gibt davon mehr denn je.

Von Hans Kratzer

Deutsche Fernsehsender heben mit großem Eifer rührselige Filmschmonzetten ins Programm, in denen mit Vorliebe geheiratet wird. Die Drehbücher sind voll von Landhochzeiten, bei denen sich trachtlerische Menschen tanzend im Kreise drehen und der Pfarrer jovial neben dem Brautpaar sitzt und die Hochzeitssuppe schlürft. Mit der Realität haben solche Bilder nicht mehr viel zu tun, das Hochzeitsritual wandelt sich im selben Tempo wie die ganze Gesellschaft. Die Zeremonien werden immer extraordinärer gestaltet. Unweigerlich beschleicht den Zuschauer der Verdacht: Je verrückter die Hochzeit, desto brüchiger die Ehe.

In Bayern lassen sich jährlich gut 25 000 Paare scheiden. Auch die traditionelle Hochzeit zerbricht zusehends. Stattdessen übernehmen Wedding Planner und freie Hochzeitsredner das Kommando. "Es ist wie bei der Baukultur", sagt der Heimatpfleger Hans Wrba. "Die Menschen wenden sich von der Tradition ab." Hochzeiten werden zum emotional aufgeladenen Event hochstilisiert. "Sie folgen den Regeln der Verweltlichung des Brauchtums", bestätigt Michael Ritter vom Landesverein für Heimatpflege.

100 Jahre Freistaat Bayern

Diese Woche widmen wir uns der Geschichte des Freistaats Bayern, den Kurt Eisner am 8. November 1918 in München ausgerufen hat. Vom 29. April bis zum 6. Mai finden Sie jeden Tag um 19 Uhr eine neue Folge auf SZ.de. Alle Texte finden Sie auf dieser Seite.

Früher war eine Hochzeit auf dem Land eine ernste und religiös geprägte Angelegenheit. Sie war primär ein Spiegelbild des harten Alltags und keineswegs auf Event und Gaudi ausgerichtet. Es hatte schon seinen Sinn, dass die Bräute einst einen Myrtenkranz anstelle eines Brautstraußes trugen, er sollte Unheil und böse Geister abwehren. "Damals ist nur selten aus Liebe geheiratet worden", sagt die Historikerin Martina Sepp. "Die Heirathen sind in der Regel nicht Herzens- sondern Geschäftssache", notierte der Schriftsteller Felix Dahn vor 150 Jahren.

Umso spannender ist der aktuelle Transformationsprozess. Moderne Hochzeitsfeiern sind geprägt von dem von allen möglichen Kulturkreisen befeuerten Event. Die Riten der klassischen bayerischen Hochzeit haben sich überlebt, an ihre Stelle treten multikulturelle, sich blitzschnell wandelnde Sitten und Bräuche. Mittlerweile gilt diese Entwicklung für das Brauchtum überhaupt. Fast nichts ist mehr so, wie es einmal war. Ein klagender Ton ist dennoch nicht angebracht. Eines ist erstaunlich: "Es hat noch nie so viele Bräuche gegeben wie heute", sagt der Kulturwissenschaftler Daniel Drascek. Auch wenn sie sich ständig verändern, so zeichnet die Bräuche immer noch aus, dass sie einen Tag vom andern unterscheiden, "sie sind ein Haltepunkt im Zeitenstrom", sagt Drascek.

Wie schnell sich Bräuche neuen Bedürfnissen anpassen, zeigen Fürstenfeldbrucker Schulkinder, die jeden Dezember Pappmodelle von Stadthäusern nach der Segnung auf der Amper davonschwimmen lassen. Dies geht auf das Hochwasser von 1785 zurück und zeigt, dass Bräuche erfunden werden, wenn man sie braucht. Die Globalisierung hat diesen dynamischen Prozess extrem beschleunigt, natürlich auch mit allen negativen Folgen. Der Soziologe Paul Scheffer sagt, in Übergangsgesellschaften, die sich durch Zuwanderung neu zusammensetzen, würden alte Traditionen naturgemäß herausgefordert, eben noch gültige Normen müssten überdacht werden.

Dieser Prozess hat natürlich auch den Fasching erfasst, der einst eine sehr ernste Angelegenheit war. In dem einen oder anderen Fasnachtsbrauch ist im Kern noch zu erkennen, dass mit alten Ritualen der Winter vertrieben werden soll. Rund um das Karwendelgebirge machen mit Larven maskierte Schellenrührer zu diesem Zweck mit ihren Kuhglocken einen Heidenlärm, früher um des Brauchs willen, jetzt auch um den Touristen ein Spektakel zu bieten. Närrische Umzüge, Elferräte, Gardemädchen - das alles gibt es in Bayern erst seit dem Krieg, es wurde quasi vom rheinischen Karneval kopiert. Letztlich verläuft die Entwicklung beim Fasching so ähnlich wie bei der Sprache und beim Brauchtum: Alles vermischt sich. Die archaischen Wurzeln des Faschings werden durch Prunksitzungen und Schunkelseligkeit verdeckt, der pure Kern des Brauchs ist nicht mehr leicht zu erkennen.

Die Pervertierung des Brauchtums als zeitloses Phänomen

Noch krasser läuft die Eventisierung des Advents aus dem Ruder. Vor hundert Jahren waren diese Wochen vor Weihnachten noch eine kirchlich vorgeschriebene Fastenzeit. Die Grenzen zwischen Figuren wie Nikolaus, Weihnachtsmann und Christkind sind längst verschwommen. "Wir müssen akzeptieren, dass sich Bräuche an eine veränderte Welt anpassen müssen. Das ist an sich nichts Negatives", sagt Brauchtumsexperte Michael Ritter, der seine These mit einem schlagenden Argument untermauert. "Wenn wir keine Veränderungen zuließen, hätten wir keinen Christbaum." Der wurde nämlich erst im späten 19. Jahrhundert populär, wie auch der Krippenbrauch und der Adventskranz. In der Chronik eines Bayerwalddorfs heißt es: "Der Adventskranz ist 1924 von der Schule aus eingeführt worden, einzelne Familien machen diesen Brauch nach."

Die oft beklagte Pervertierung des Brauchtums ist ein zeitloses Phänomen. Ausschreitungen sind kein Privileg heutiger Krampus- und Perchtenläufe. Anno 1601 vermerkte der Landrichter von Berchtesgaden "ain merckliche große Unzucht mit dem Perchtlauffen". Über Jahrhunderte hinweg gab es im Advent Übergriffe und Schlägereien. Alte Polizeiakten aus München belegen Tumulte, phasenweise wurde das Herumfahren des Nikolaus und seines Gefolges verboten. Der Übergang zwischen Brauchtum, Betteln und Kriminalität war stets fließend.

Dass sich Bräuche veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen sofort anpassen, zeigt auch das Fest Allerheiligen. Bis auf den Friedhofsbesuch ist nicht viel übrig geblieben von der früheren Vielfalt. Fast vergessen ist, dass Firmlinge an diesem Tag von den Paten reich beschenkt wurden. Dieses Geben und Nehmen hat sich nun auf das Fest Halloween verlagert, an dem Wohlstandskinder an den Haustüren um Süßigkeiten betteln. Einst bettelten die Kinder als Kletzenklopfer zwar auch, aber nur die aus armen Familien.

Als Folge der Globalisierung und der Migration etablieren sich nun hierzulande Bräuche und Traditionen aus anderen Kulturkreisen. Manchmal scheint es auch nur so. Eine Wurzel des schon erwähnten und aus Amerika importierten Festes Halloween führt eindeutig zum europäischen Armen-Seelen-Glauben des Hochmittelalters. Hier wird quasi eine uralte europäische Tradition wieder aufgenommen, wenn auch mit stark kommerzieller Komponente. Die Ethnologin Helga Maria Wolf kommt zu dem Ergebnis, dass sich manche Bräuche weiterentwickeln, verschwinden und dann zum Teil wieder revitalisiert werden. Bräuche, die sich in abergläubischer Zeit um die mythischen Kräfte rankten, werden aber nicht mehr zurückkommen. Wenn etwa ein Bauer früher im Wald einen Baum umgehauen hatte, ritzte er mit dem Beil drei Kreuze in den Baumstock ein, damit die armen Seelen darauf rasten können. Man glaubte, dass diese in der Raunacht von Dämonen verfolgt würden.

Keineswegs sind frühere Bräuche allesamt rein und lauter gewesen. Der Horror war immer zu spüren. Die Habergeiß war ebenso wie der Krampus ein furchtbarer Kinderschreck und als solcher ein Abbild der rauen und oft rücksichtslosen Welt unserer Vorfahren. Gleichzeitig sind moderne Bräuche häufig Ausdruck heutiger Orientierungslosigkeit. Etwa, wenn im Bayerischen Wald aus Eventgründen Almabtriebe inszeniert werden, die es dort nie gegeben hat. Noch irritierender wirken die inkludierten Bullriding-Meisterschaften.

Der Lederhosen- und Dirndl-Kult, der vom Oktoberfest aus die halbe Welt erobert, ähnelt in seiner Beliebigkeit oft mehr einem Faschingsgag. Mit der Liebe zur Tracht stolzer bayerischer Gebirgsbewohner hat das nichts zu tun. Dafür sieht man die modischen Angelegenheiten mittlerweile sehr entspannt. "Früher, wenn an einer Tracht irgendein Knopf nicht richtig saß, gab's eine Tracht Prügel. Oder wenn man an einem traditionellen Volkslied den Text etwas verändert hat, war das ein Sakrileg. Dass sich diese Engstirnigkeit heute etwas verflüchtigt hat, ist wohltuend", sagt der Musiker Hans Well.

Die Münchnerin Ingeborg Böhm erinnert sich an eine Feier vor gut 20 Jahren, bei der ein Onkel aus dem Rheinland, der sich als Bayer verkleidet hatte, liebenswürdig darauf hingewiesen wurde, sein kariertes Hemd sei völlig unpassend zur Lederhose - zur Männertracht gehöre ein weißes Leinen- oder zumindest Baumwollhemd, aber nix Buntes oder gar Kariertes. "Aber die Modemacher haben es in kurzer Zeit geschafft, dass sich heute jeder, der als zünftiger Bayer erscheinen möchte, ein kariertes Hemd kauft, weil es ihm als zur Tracht gehörig angeboten wird", sagt Frau Böhm.

Die bayerische Bevölkerung: Ein Durcheinander ehemaliger "Zuagroaster"

Andererseits hat Bayern als Einwanderungsland seit jeher kulturelle Komponenten aus aller Welt in seine DNA aufgenommen. Die einstige Einlassung des Münchner Rechtsanwalts Fritz Berthold, wonach die Altbayern "Abkömmlinge sudanesischer Kantinenwirte, irakischer Bauchtänzerinnen und syrischer Haarauszupfer" seien, mag frech klingen. "Aber so falsch ist sie gar nicht", argumentieren die Historiker Klaus Reichold und Thomas Endl. Nach der aktuellen Forschung setzt sich die bayerische Bevölkerung tatsächlich aus einem Durcheinander ehemaliger "Zuagroaster" zusammen, die jeweils ihre eigenen Sitten und Gebräuche in die bayerische Kultur einbrachten.

Der Historiker Ferdinand Kramer bilanziert, Umbrüche hätten zwar immer Angst und Verunsicherung verbreitet, das Land aber auch vorangebracht. "Es ist schon erstaunlich, dass dieses Bayern in seiner langen Geschichte stets wie ein Schiff auf stürmischer See hin- und hergeworfen wurde, dabei dem Kentern nahe war und dennoch unversehrt weiterfahren konnte." Diese phänomenale Kontinuität führt Kramer darauf zurück, dass Staat und Gesellschaft in Bayern gerade in Umbruchsphasen ihre Bemühungen um die eigene Identität stets verstärkt haben. Wie etwa nach dem letzten Krieg, als trotz materieller Not sofort Denkmäler und Ensembles restauriert wurden.

Darauf aufbauend, konnten die Historiker und Politiker darauf verweisen, die Kultur Bayerns sei von großer Dauerhaftigkeit geprägt. Und tatsächlich ist auch jetzt, nachdem die alte Agrarwelt durch eine plurale Gesellschaft mit vielen Lebensentwürfen und Individualisierung ersetzt wurde, ein neuer Trend zur Heimat festzustellen.

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