Süddeutsche Zeitung

Zukunft der deutschen Traditionsmarke:Mercedes muss wieder Zeichen setzen

Lesezeit: 6 min

Mercedes macht vieles richtig - aber zu viel falsch. Smart kommt nicht in die Gänge, Synergieeffekte lassen zu wünschen übrig, und eine nachhaltige Strategie wird noch gesucht. Eine Analyse.

Von Georg Kacher

Es ist der 28. September 2012. Daimler und Renault geben bekannt, dass sie gemeinsam eine Vierzylinder-Benzinmotoren-Familie entwickeln. Am 24. Oktober 2012 erklärt Daimler, im Rahmen des Programms MB 2020 den Pkw-Absatz von rund 1,3 Millionen in 2012 bis 2020 auf 2,6 Millionen Einheiten verdoppeln zu wollen. Am 25. Oktober 2012 muss das Unternehmen für das laufende Jahr die Ertragsprognose um 800 Millionen Euro auf rund acht Milliarden nach unten korrigieren. Absatz und Gewinn lägen damit trotzdem auf Rekordniveau. Gleichzeitig kündigt die Firma bis Ende 2014 Einsparungen in Höhe von zwei Milliarden Euro an.

Drei Meldungen, eine Erkenntnis. Mercedes scheint wild entschlossen, BMW und Audi wieder zu überholen zu wollen - obwohl rigoros gespart werden muss, der Gewinn um elf Prozent nachgegeben hat, die Marge auf nur noch 6,4 Prozent statt der anvisierten zehn Prozent geschrumpft ist. Das Unternehmen erlöst im Schnitt pro Fahrzeug zwar Tausende Euro mehr als die Wettbewerber, trotzdem liegt die Rendite rund fünf Prozent unter den Vergleichszahlen aus München und Ingolstadt. Wie soll MB 2020 greifen, wenn die Kostenfalle zuschnappt, wenn der Ausbau der Modellpalette in Teilen dem Rotstift zum Opfer fällt, wenn nötige Investitionen gekürzt oder gekappt werden müssen, wenn die Zwei-Marken-Strategie mit Smart und Mercedes kaum mithalten kann gegen die geballte Audi-Power im VW-Konzernverbund und gegen die clevere Vierfaltigkeit von BMW, BMW i, Mini und Rolls-Royce? Viele Fragen, wenige befriedigende Antworten.

Was dem Stern die Leuchtkraft zu rauben droht, ist eine Mischung aus zu hoher Komplexität und zu geringer Flexibilität. Nicht die Kosten für Teile oder Arbeitslohn bedrohen die Rendite, sondern hausgemachte Versäumnisse wie die wenig konsequente Modulstrategie, die zu geringe Kommunalität der Aggregate, die unzureichende Verblockung der Fabriken. Während BMW seine neuen Drei-, Vier- und Sechszylinder in Rahmen eines konsequenten Gleichteilekonzepts miteinander vernetzt hat, beschränkt sich die Austauschbarkeit bei den Vier- und Sechszylinder-Aggregaten von Mercedes auf die Diesel-Einspritzdüsen. Während Audi die Varianz zwischen den Front- und Allradmodellen auf ein Minimum reduziert hat, unterscheidet sich die 4Matic-Hardware in vielen Punkten vom Antriebstrang des Hecktrieblers. Mercedes hat mit MFA (A/B-Klasse) und MRA (C-Klasse und größer) zwar zwei Modulkonzepte definiert, doch bei der Umsetzung geht man grundverschiedene Wege. In der Kompaktklasse braucht Daimler die Schützenhilfe von Renault/Nissan, um in die Nähe der Stückzahlen von Audi und BMW/Mini zu kommen. Von der C-Klasse aufwärts kann sich Mercedes nur selbst helfen. Das kostet Geld, viel Geld.

Die Frage, warum man sich nach Mitsubishi und Chrysler mit Renault/Nissan schon wieder einen wenig standesgemäßen Partner ausgeguckt hat, stellt sich eigentlich gar nicht mehr. Stattdessen sucht man nach Gründen für die aktuelle Beziehungskrise. Liegt es an den schwer synchronisierbaren Anlaufterminen, an den unterschiedlichen Auffassungen von Daimler-Chef Dieter Zetsche und Carlos Ghosn, der Renault/Nissan in Personalunion führt, oder an der Erkenntnis, dass Mercedes im Verbund kaum günstiger konstruieren, einkaufen und produzieren kann als in Eigenregie? Fest steht, dass Infiniti als einziger Allianz-Partner 2015 einen A-Klasse-Ableger bekommt, doch dieser Deal dürfte die Kostenstruktur von Daimler nur unwesentlich verbessern.

Die nächste Generation der Mercedes Frontantriebs-Architektur (MFA) startet 2017 dem Vernehmen nach wieder nicht im Schulterschluss mit dem französisch-japanischen Partner. Obwohl Infiniti mittelfristig auch eine Version des kommenden Crossovers GLA übernehmen und damit das Volumen auf 160.000 Fahrzeuge verdoppeln will, bedarf es längerer Laufzeiten und neuer Mercedes-Modelle, um die Produktion über den Lebenszyklus wie geplant von 2,8 auf 4,9 Millionen Einheiten zu erhöhen.

Auch in anderen Bereichen kommen sich die Partner nur langsam näher. Statt mit Mercedes zu kooperieren, stellt Renault seinen geplanten Mittelmotor-Sportwagen Alpine gemeinsam mit dem englischen Kleinserien-Hersteller Caterham auf die Räder. Statt gemeinsam moderne Dreizylinder in Angriff zu nehmen, beschränkt sich der Motoren-Deal auf Diesel-Vierzylinder. Statt das Smart-Comeback zusammen anzugehen, warfen die Franzosen schon bei der Neuauflage des Fortwo das Handtuch.

Auch am anderen Ende der Skala ist Feuer unterm Dach. Denn Daimler will sparen, müsste aber eigentlich investieren. Zum Beispiel in neue Technologien zur Senkung der CO2-Emissionen, in neue Aggregate mit hoher Verblockung, in eine evolutionsfähige Elektronik-DNA, in strategische Skaleneffekte, in mehr Flexibilität zwischen den Baureihen.

Dies ist schlichtweg überlebensnotwendig, denn mit der Kompaktklasse kann Mercedes nie das Geld verdienen, das die Entwicklung der großen, ertragreichen Autos verschlingt. Damit dieser Ertrag stabil bleibt, muss der hohe Preis durch einen entsprechenden Gegenwert gerechtfertigt sein. Anders ausgedrückt: der Kunde erwartet vom Stern keine Massenware, sondern Fahrzeuge, die man anderswo nicht bekommt. Zum Beispiel ein viertüriges Luxuscoupé, ein viertüriges oder zumindest viersitziges Cabrio, einen Flügeltürer, ein neues G-Modell, den fortschrittlichsten Plug-in Hybrid. So gesehen, steht Mercedes am Scheideweg. Entweder man spart und akzeptiert in der Folge weniger Vielfalt und mehr Kompromisse. Oder man stellt den gesamten Apparat konsequent um auf mehr Stringenz und weniger Komplexität. Und zwar zeitnah.

Smart trägt nicht die Schuld am Mercedes-Dilemma, aber das 1994 ausgehobene Milliardengrab ist symptomatisch für die Erosion des Sterns. Auch der neue, gewöhnungsbedürftig gestylte Fortwo (2013) kann weder die Portfoliolücke zu Mercedes schließen, noch für irgendwelche Skaleneffekte zwischen den beiden Marken sorgen. Während rund ein Fünftel aller Mini-Kunden, die bald zwischen neun Varianten wählen können, irgendwann einen BMW kaufen, wechselt kaum ein Smart-Besitzer später zu Mercedes. Auch das Design des viersitzigen und viertürigen Forfour (2014) erinnert an den erfolglosen Toyota IQ, wobei vor allem die um über zehn Zentimeter gewachsene Breite die Eignung als Stadtwagen mindert. Der effiziente Diesel-Antrieb fiel ebenso dem Rotstift zum Opfer wie das einst serienmäßige automatisierte Schaltgetriebe. Das Kernproblem: Anders als Mini ist Smart nicht Premium, anders als BMW i sind selbst die E-Smarts nicht durchgängig grün, anders als ein Audi A1 profitiert Smart nicht vom Abstrahleffekt der Hauptmarke.

Während sich die B-Klasse als Auffangbecken für verprellte A-Klasse-Fundamentalisten beweisen soll, will die Marke mit dem kommenden CLA eine Gegenposition zum Audi A5 und zum nahenden BMW Dreier GT aufbauen. Das viertürige Coupé (2013) und der davon abgeleitete Shooting Brake (2014) haben beinahe C-Klasse-Format, sind in der Herstellung aber deutlich günstiger. Der GLA rundet 2014 als kompakter Lifestyle-Crossover die Palette ab. Alle drei Modelle polarisieren durch ihr flamboyantes, nicht immer praxisorientiertes Design. Hoffnung auf einen Hauch Nonkonformismus macht ein noch nicht beschlossenes, kantig-pfiffiges G-Modell im Kompaktformat. Strategisch korrekt, aber zu spät setzt Mercedes auch in anderen Segmenten auf neue SUV und Crossover. In Planung sind ein hübscher und nicht mehr kantiger GLK-Nachfolger, eine Coupé-Variante der M- und GLK-Klasse und eine Evolution der G-Klasse.

Chefdesigner Gorden Wagener genießt weitgehend Narrenfreiheit, doch die Stimme des Technikvorstands Thomas Weber verlor in den letzten Jahren an Gewicht. Das mag auch daran liegen, dass er sich mit manchen Ideen nicht gegen das Führungsduo Dieter Zetsche und Produktionsvorstand Wolfgang Bernhard behaupten konnte. Die Brennstoffzelle beispielsweise rückt in immer weitere Ferne, die bereits 2007 angekündigte Hybridoffensive scheint unter dem Kostendruck zu schrumpfen wie Wolle im Heißwaschgang, ein erst auf C-Klasse-Basis und dann als Teil der E-Klasse-Familie konzipierter Sportvan wartet auf die Freigabe. Weil der Vorstand zu den anstehenden Vertragsverlängerungen glänzende Zahlen vorweisen will, muss massiv gespart werden. Das kann schon mal dazu führen, dass wichtige Investments nicht getätigt werden, obwohl dem Unternehmen dadurch spätere Gewinne in vielfacher Höhe entgehen.

Nächstes Jahr steht im Zeichen einer großen Produktoffensive. Während die überarbeitete E-Klasse klar besser aussieht als der barocke Vorgänger, haben die Stilisten bei der neuen S-Klasse außen wie innen ziemlich dick aufgetragen - das gilt besonders für die AMG-Variante. Das für 2014 avisierte große Coupé ist dagegen bildhübsch. Man kann über Formen geteilter Meinung sein, doch angesichts von SLK, SL und SLS muss die Frage gestattet sein, warum Front und Heck hier so gar nicht miteinander korrespondieren. Ähnliches droht bei dem für 2015 angekündigten SLC (er ersetzt den SLS), der eine aggressive Schnauze und einen sanft gerundeten Hinterwagen im Stil des Porsche 911 spazieren fährt. Als Lichtblick gilt dafür die neue C-Klasse (2014) samt Kombi und Coupé.

Wo geht die Reise hin? Selbst Liebhaber der Marke werden den Eindruck nicht los, dass in Möhringen gerade soviel getan wird wie unbedingt nötig, damit die handelnden Personen gut dastehen gegenüber den Räten und den Aktionären. Ein weitgehend erfolgloses Formel-1-Engagement kann man sich offenbar leisten im Schwabenland - nicht aber den notwendigen Dreizylinder, den hoch motorisierten Diesel, das Bindeglied zwischen Smart und A-Klasse oder die Plug-in Hybriden, die zeitnah die 95 g- und 49g-CO2-Hürden nehmen. "Das Beste oder Nichts", so lautet der Slogan, mit dem Mercedes sich und uns Mut macht. Doch was ankommt, ist eine von Sparparolen flankierte Zufriedenheit mit dem Status Quo. Dabei wäre es an der Zeit, wieder Zeichen zu setzen in Bezug auf Sicherheit, Komfort, Perfektion und Faszination. Und für den überfälligen Strukturwandel, ohne den sich Mercedes nicht aus der Kostenklemme befreien kann.

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Quelle:
SZ vom 10.12.2012
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