Wege aus dem Verkehrschaos:Autos müssen draußen bleiben

Kopenhagen, Barcelona, Singapur und andere Städte trafen zum Teil harte Entscheidungen, um ihr Verkehrsproblem zu lösen. So haben sie den Dauerstau beendet.

Von Felix Reek

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(Foto: dpa)

Es wird eng in den Metropolen. 55 Prozent aller Menschen weltweit leben in Städten, bis 2050 werden es 68 Prozent sein. Sie alle wollen mobil sein, in Deutschland werden 80 Prozent aller zurückgelegten Strecke mit dem Auto absolviert. Die Folgen sind steigende Abgaswerte und immer mehr im Stau verbrachte Zeit (im Bild Brüssel zur Rush Hour). Daran werden auch Elektroautos nichts ändern. Oder neue, breitere Straßen. Die Untersuchungen von Verkehrsökonomen zeigen, dass sie nur kurzfristig Linderung bringen. Langfristig sorgen bessere Straßen zu einer häufigeren Nutzung - und mehr Verkehr. Das Problem ist der Städte ist: Über Jahrzehnte sind sie nach den Bedürfnissen von Autofahrern gedacht worden. Es gilt den Raum neu aufzuteilen. Eine schwierige Aufgabe - doch einige Städte haben bereits Ideen und Maßnahmen durchgesetzt, um die Lage zu verbessern. Trotz der anfänglichen Vorbehalte der Bürger.

Houten (Niederlande)

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(Foto: imago images / Jochen Tack)

Für Radfahrer klingt Houten wie eine Utopie: Im Zentrum rollen nur Fahrräder, Pedelecs und Lastenräder. Autos gibt es hier nicht. In den Siebzigerjahren war die Stadt 13 Kilometer südöstlich von Utrecht ein kleines Dorf mit 8000 Einwohnern. Dann wurde Houten wegen seiner günstigen Lage als Wachstumskommune ausgewiesen. Junge Menschen und Familien sollten sich hier ansiedeln. Zu diesem Zweck entwickelte der Stadtplaner Robert Derks ein Konzept, das sich auf Fahrräder konzentrierte. Vom Zentrum ausgehend verlaufen sternförmig Radwege, Autofahrer müssen auf einen Rundweg ausweichen. Diese Umleitung führt dazu, dass die meisten Strecken mit dem Fahrrad schneller zu bewerkstelligen sind. Außerdem haben Radler im Verkehr immer Vorrang. All diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass es im Zentrum von Houten seit 15 Jahren keinen schweren Unfall mehr gab und die meisten Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Mittlerweile ist Houten auf 50 000 Einwohner angewachsen und gilt als Modellstadt für ein alternatives Verkehrskonzept. Architekten, Stadtentwickler und Verkehrsexperten besuchen die niederländische Gemeinde, um aus den Erfahrungen, die hier gemacht wurden, zu lernen.

Kopenhagen

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(Foto: Daniel Hofer)

In Houten hatten die Planer einen immensen Vorteil: Das Verkehrskonzept konnte vor dem Wachstum entwickelt werden. In vielen anderen Städten gibt es bestehende Strukturen, die Veränderungen erschweren. Ein Beispiel, wie das gelingen kann, ist Kopenhagen. Nur 14 Prozent aller Einwohner fahren hier täglich Auto. Das liegt aber nicht daran, dass die Dänen so leidenschaftliche Radfahrer sind. Die Stadt schuf die Gundlagen, damit sich die Pendlergewohnheiten ändern konnten. Am Anfang stand die Erkenntnis: Die dänische Hauptstadt hat nicht viel Platz und Fahrräder verbrauchen weniger davon als Autos. Bereits in den Achtzigerjahren versuchte Kopenhagen Radwege vor allem durch Nebenstraßen zu verlegen. Doch das misslang. Die Radfahrer blieben wegen den kürzeren Strecken trotzdem auf den Hauptstraßen. 1993 begann die systematische Förderung, zu der auch der Beschluss gehörte, "die weltbeste Fahrradstadt" zu werden. Alle zwei Jahre erhebt Kopenhagen einen Bericht, in dem Daten zu Indikatoren wie Unfälle, Länge des Radnetzes, Finanzmittel, Infrastruktur und gefühlte Sicherheit erhoben werden. Anhand dieser Ergebnisse erarbeiten Experten Konzepte, um den Radverkehr kontinuierlich auszubauen und zu verbessern. Seit 2001 hat der Fahrradverkehr Priorität in der Stadtplanung. 47 Prozent der Pendler in Kopenhagen nutzen mittlerweile das Fahrrad. Es gibt breite, von den Autos abgetrennte Fahrradwege, eigene Brücken, LED-Lichter warnen an Kreuzungen, wenn sich ein Fahrradfahrer im toten Winkel nähert. Im nächsten Schritt will Kopenhagen das Umland vernetzen. Das Ziel sind 467 Kilometer "Autobahnen für Fahrräder" als Teil eines strengen Klimaschutzprogramms bis 2030. Dann dürfen auch keine neuen Autos mit Verbrenner-Motor mehr zugelassen werden.

Ferrara (Italien)

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(Foto: imago/Loop Images)

In der italienischen Stadt Ferrara gibt es 140 000 Einwohner - und 100 000 Fahrräder. 30 Prozent der Wege werden mit dem Rad zurückgelegt, Bürgermeister und die Stadträte haben das Recht auf Diensträder. Das ist das Ergebnis einer konsequenten Politik, die Fußgänger und Radler bevorzugt. Das Zentrum von Ferrara, das von einer neun Kilometer langen Stadtmauer umgeben ist, ist für Autos gesperrt. Die fünf Hektar große Fläche ist eine Fußgängerzone, die allerdings auch für Fahrräder freigeben ist. Außerhalb dieses Gebietes dürfen Autos zwar fahren, in immer mehr Vierteln wird aber Fußgängern und Radlern Vorrang eingeräumt. Diesen Status baut die italienische Stadt kontinuierlich aus. Entlang der Durchgangsstraßen entstehen neue Radwege und es gibt mittlerweile 2500 kostenlose Abstellplätze.

Pontevedra (Spanien)

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(Foto: AFP)

Die Befürchtungen des Einzelhandels in der Stadt im Nordwesten Spaniens waren groß: Wenn der Autoverkehr eingeschränkt wird, geht auch der Umsatz zurück. Auf 70 000 Einwohner von Pontevedra kamen 50 000 Kraftfahrzeuge, 70 Prozent aller Einkäufe wurden mit dem Auto erledigt. Trotzdem gewann 1999 überraschend der Arzt Miguel Anxo Fernández Lores der grün-linken BNG die Kommunalwahlen. Und schockte die Bewohner, indem er die gesamte Altstadt zur Fußgängerzone erklärte. Doch die Ladenbesitzer beruhigten sich schnell wieder: Der Umsatz stieg, anstatt zu sinken. Die Kunden, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kamen, waren entspannter, weil sie nicht mehr nach einem Parkplatz suchen mussten. Und sie gaben mehr Geld aus. Selbst der Einzelhandel in den umliegenden Gebieten profitierte. Dass der Protest der Autofahrer nicht lange anhielt, liegt auch daran, dass Lores in einem Bogen um das Zentrum 15 000 Parkplätze einrichten ließ. Zwei Drittel davon sind gratis, ein Teil ist für Bürger reserviert, die in der Innenstadt arbeiten. Kleine Stadtbusse fahren von dort zu den wichtigsten Punkten im Zentrum. Ihre Benutzung ist kostenlos. Als Ergebnis dieser Maßnahmen gibt es seit Jahren keine Verkehrstoten mehr in der Innenstadt von Pontevedra, die Kohlendioxid-Emissionen sind um 70 Prozent gesunken.

Barcelona

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(Foto: picture alliance / Guo Qiuda/Xin)

Barcelona kämpft wie viele Metropolen mit schlechter Luft. Einer Studie zufolge sterben jährlich 3500 Menschen deswegen, es gibt nur 2,7 Quadratmeter Grünfläche pro Bewohner. In London sind es 27 Quadratmeter. Die Lösung der Spanier sind die sogenannten "Superilles". In Barcelona sind die Stadtviertel schachbrettmusterartig aufgebaut. Die Idee ist, mehrere Häuserblöcke zu einen "Superblock" zusammenzufassen. Anwohner und Lieferanten können hineinfahren, allerdings nur mit einer Geschwindigkeit von 10 km/h. Der restliche Verkehr bleibt draußen und wird zwischen den Superblöcken umgeleitet. Um den Anwohnern den Verzicht aufs Auto zu erleichtern, baut Barcelona in den Superblöcken Radwege und das Bus-Netz aus. Die nächste Station soll immer innerhalb von 250 Metern zu erreichen sein, eine Monatskarte für den gesamten ÖPNV in Barcelona kostet 40 Euro. Die freigewordenen Flächen wie ehemalige Kreuzungen, dienen jetzt der Allgemeinheit - zum Beispiel als Spielplätze, Laufbahnen oder als Fußballfeld.

Bern-Bümpliz (Schweiz)

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(Foto: npg ag)

Bestrebungen, ohne Auto zu leben, gibt es schon seit Jahrzehnten. In der DDR beispielsweise war es eine übliche Praxis, die Stellplätze von den Wohnungen zu trennen. Wichtiger war die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Nur nannte es dort niemand explizit autofreies Wohnen. In der BRD entstand 1976 in Nürnberg-Langwasser das erste Gebiet, das bewusst Kraftfahrzeuge aussperrte. Seitdem gibt es weltweit viele weitere Pilotprojekte, zum Beispiel in Amsterdam-Westerburg, in Wien-Florisdorf, in München-Riem, Hamburg-Winterhude und Freiburg-Vauban. Autos parken hier an zentralen Sammelorten außerhalb des Gebietes oder es wird ganz darauf verzichtet. Im Westen von Bern entstand 2011 in der Burgunderstraße eine Siedlung mit 80 Wohnungen, deren Mietvertrag ein Autoverbot enthält. Zwar gibt es 13 Parkplätze, doch diese sind ausschließlich für Besucher reserviert.

Curitiba (Brasilien)

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(Foto: AFP)

In Curitiba hat sich der Autoverkehr seit den Siebzigerjahren um ein Drittel verringert - und das, obwohl sich die Einwohnerzahl seitdem auf 3,6 Millionen verzehnfachte. Zu verdanken hat das die brasilianische Metropole ihrem damaligen Bürgermeister Jaime Lerner - der auch Städteplaner ist. Seine Lösung für den steigenden Verkehr war ein öffentliches Nahverkehrssystem aus Bussen, die im Minutentakt fahren. Lerner baute die Straßen um, schuf eigene Spuren und förderte den Wohnungsbau entlang der Linien. Das System ist einfach: Mini-Busse tranportieren die Menschen aus den Wohngebieten zu den herkömmlichen Linien um die Innenstadt herum. Fünf Haupt-Schnelllinien, die BRTs, führen in das Zentrum. An den Stationen gibt es erhöhte Plattformen für den Einstieg, für Menschen mit Beeinträchtigungen stehen Lifte bereit, bezahlt wird vor der Fahrt. Das führt dazu, dass ein Halt im Schnitt nur zwischen 15 und 19 Sekunden dauert. 80 Prozent der Bewohner Curitibas nutzen diese Busse, was dazu geführt hat, dass die Stadt 27 Millionen Autofahrten pro Jahr einspart und 30 Prozent weniger Sprit verbraucht als vergleichbare Metropolen in Brasilien.

Singapur

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(Foto: picture alliance / Wallace Woon/)

"Unser Ziel ist nicht nur, mehr Busse und Züge einzusetzen. Wir wollen einen derart erstklassigen öffentlichen Nahverkehr in Singapur bieten, dass die Menschen überhaupt kein Bedürfnis mehr haben, Auto zu fahren", sagte 2018 Premierminister Lee Hsien Loong. Die Regelungen dazu sind radikal: Ein neues Auto kann in dem Stadtstaat nur noch angemeldet werden, wenn ein anderes aus dem Verkehr verschwindet. Zudem kostet die Zulassung mehr als 30 000 Euro und gilt nur für zehn Jahre. Doch selbst wer sich diesen Luxus leisten kann, muss weiter zahlen. Überall in der Stadt gibt es Mautstationen, die über eine kleine Box auf dem Armaturenbrett die Gebühren automatisch abbuchen. Das System belohnt Autofahrer, die außerhalb der Stoßzeiten fahren oder Alternativrouten abseits der viel befahrenen Strecken wählen. Nur noch jeder zehnte besitzt heute in Singapur ein Auto. Das ferne Ziel ist eine vollkommen autofreie Stadt. Zumindest, wenn es um Verbrennungsmotoren geht. Parallel dazu wurden andere Verkehrsmittel massiv ausgebaut. 2017 beschloss die Regierung, 13 Milliarden Euro für den öffentlichen Nahverkehr auszugeben. Ziel ist, dass jede Familie nur noch zehn Minuten Fußweg bis zur nächsten Haltestelle benötigt. Verspätungen der Verkehrsmittel gibt es kaum. Da der öffentliche Nahverkehr so beliebt ist, sind die ÖPNV-Linien zu Stoßzeiten oft überfüllt. Um das zu vermeiden, gibt es eine Rush-Hour-App. Wer außerhalb des Berufsverkehr reist, fährt umsonst und bekommt in einem nahegelegenen Café ein Getränk spendiert.

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