Süddeutsche Zeitung

VW ID.3 und Golf GTI:Grünes Denken muss keinen Verzicht bedeuten

Lesezeit: 6 min

Sie könnten nicht weiter auseinanderliegen: Der ID.3, der VW im Elektroauto-Markt etablieren soll, und der ewige Krawall-Golf, der GTI. Doch beide zaubern beim Fahren ein breites Grinsen aufs Gesicht.

Von Georg Kacher

Frank Welsch entsteigt bestgelaunt seinem weißen ID 3. Der frühere VW-Entwicklungsvorstand und jetzige Koordinator der Marken wähnt sich fast am Ziel: "Im Prinzip geht es jetzt nur noch um Feinheiten der Adaption und Integration, um die Stabilität der Systeme. Aber die Zielflagge ist in Sicht - das bestätigen die Ergebnisse der Vorstands-Prüffahrten mit aktuellen Autos, die im Zwei-Tages-Rhythmus stattfinden." Dass aller Anfang schwer ist, hat sich beim ID 3 nachdrücklich bestätigt. Dass aber auch der Golf VIII nicht in die Gänge kam, war nicht nur ein wirtschaftlicher Tiefschlag. Fast zwölf Monate hat es gedauert, ehe im Herbst endlich auch der GTI-Nachfolger und der GTE als stark verbesserter Plug-in Hybrid auf den Markt kommen werden. Nach der ausverkauften Frühbucher-Sonderserie ist am 20. Juli Bestellfreigabe für diverse vorkonfigurierte ID 3-Modelle, denen noch in diesem Jahr der größere ID 4 Crossover folgen soll. Die Zeit drängt, jeder neu zugelassene Stromer reduziert für den Hersteller die 2021 drohenden CO₂-Strafzahlungen.

Gipfeltreffen am Mittellandkanal. Der ID 3 Max First Edition (Bruttopreis 49 995 Euro minus 9480 Euro Boni) ist mit dem kleineren 58 kWh-Akku unterwegs; die größere 77 kWh-Batterie wird zeitnah nachgeschoben, eine 48 kWh-Variante folgt später. Der neue Golf GTE kombiniert den 150 PS starken 1,4 Liter-Benziner mit einer 115 PS E-Maschine für eine Systemleistung von 245 PS und 400Nm - das sind 41 PS mehr als beim Vorgänger. Die achte Generation des Golf GTI repräsentiert die Verbrennerwelt. Seine 2.0 Liter-Maschine bringt es auf unverändert 245 PS. In Vorbereitung sind der GTI Performance mit 300 PS und der nächste Golf R mit Allradantrieb, dem 340 PS nachgesagt werden. Neu für alle drei Volkswagen ist die optionale Travel Assist Funktion, die es erlaubt, den Wagen bis 210km/h teilautomatisiert zu bewegen. Das funktioniert allerdings mehr schlecht als recht: spätestens nach zehn Sekunden muss Hand angelegt werden, auf Straßen ohne Mittellinie macht sich das Auto unnötig breit, der Spurführung in Baustellen kann man nur bedingt über den Weg trauen, Lenkeingriffe erfolgen manchmal ruppig oder verspätet, der Abstandswarner steigt im dichten Verkehr oft übervorsichtig auf die Bremse. Stoppen bei Rot ist Ehrensache, wieder Anfahren bei Grün leider nicht. Keine Frage: das System hat Potenzial, muss aber noch nachreifen.

Reduziert und einfach anders

Los geht´s im ID 3. Weil Schönheit bekanntlich im Auge des Betrachters liegt, muss nicht jeder den fetten schwarzen Kunststoff-Einleger zwischen Haube und Scheibe goutieren, oder die vom Fiat Ritmo inspirierte untere Fensterlinie. VW bekam im Vorfeld viel Kritik für das angeblich karge, wenig einladende Interieur, doch zumindest die Max-Ausstattung wirkt nicht billig, sondern reduziert und ganz einfach anders. Die Massagesitze fühlen sich gut an, das Head-up-Display macht das gedrängte Mini-Instrumentarium im direkten Blickfeld des Fahrers nahezu überflüssig, das Panoramadach schafft ein helles und luftiges Ambiente. Doch der Clou des Elektro-VW ist die erst durch den verlängerten Radstand mögliche Synthese aus Golf-Grundfläche und Passat-Platzangebot samt 385 Liter großem Kofferraum. Leider dürfen in Verbindung mit dem stärksten Akku aus Gewichtsgründen statt fünf nur noch vier Personen mitfahren. Die Technik erinnert in einem Punkt an den Käfer, denn auch der ID 3 setzt auf Heckmotor und Heckantrieb, zunächst mit 204 PS und Eingang-Automatik. Eine Version mit GTX-Allradantrieb und entsprechend mehr Power soll 2021 folgen.

ID 3-fahren zaubert immer wieder ein breites Grinsen aufs Gesicht. Die Maschine schiebt aus dem Nichts mit 310 Nm mächtig an, der windschnittige Fünftürer spurtet in 7,3 Sekunden von 0 auf 100km/h und wirft erst bei 160 km/h das Handtuch. Reichweite? Zwischen 300 und 400 Kilometer. Verbrauch? Offiziell 14,5 kWh, auf freier Wildbahn auch schon mal das Doppelte. Ladedauer? Wer eine 100-kW-Säule findet, kann in 30 Minuten genug Strom für die nächsten 250 Kilometer bunkern. Es gibt nur drei Fahrstufen: vorwärts (auf Wunsch mit Reku-Unterstützung), rückwärts, neutral. Ein Kapitel für sich sind die gewöhnungsbedürftigen Schieberegler am Multifunktionslenkrad und unterhalb des Zentralmonitors. Laut-leise, warm-kalt, schneller-langsamer - ein Dorado für Digitalos mit Fingerspitzengefühl, ein Rückschritt für die Knöpfe-und-Tasten-Fraktion. Die restliche Funktionen sind wie beim Golf quer über das Cockpit verstreut - das frustriert und lenkt ab.

Ein Jahr lang umsonst Strom

Der 1794 Kilo schwere Stromer liegt schon aufgrund der niedrigen Einbaulage des Akku-Pakets ausgesprochen satt auf der Straße. Die 20-Zoll-Gummis tun das ihre, um Traktion, Grip und Stabilität zu optimieren. Das im Grenzbereich dezent heckbetonte Eigenlenkverhalten deutet an, was möglich wäre, wenn man den einen oder anderen elektronischen Aufpasser spontan zur Kurzarbeit überreden könnte. Die Lenkung beschreibt zwar einen mit 10,2 Meter formidabel engen Wendekreis, aber die zu indirekte Übersetzung will einem den Kurvenspaß nicht so richtig gönnen. Die Bremse verzögert zwar kraftvoll und nachhaltig, könnte jedoch etwas prompter und leichtgängiger ansprechen. Die an sich stimmige adaptive Dämpferverstellung tut sich auf schlechten Straßen schwer mit den komfort-mindernden XXL-Rädern. Was sagt Frank Welsch zu diesen Kritikpunkten? "Wir haben bereits nachgeschärft. In Sachen Fahrprogramm ist Comfort das neue Sport, die Lenkung bekommt eine flinkere Software aufgespielt, bei der Bremse ist das Pedal straffer angebunden."

Ein halber Tag ist nicht genug, um alle Stärken und Schwächen des ID 3 zu erfahren. Besonders gespannt sind wir auf den stärkeren ID 3 Tour, der mit bis zu 125 kW laden kann und unter idealen Bedingungen angeblich 550 Kilometer weit kommt. Bis auf weiteres darf jeder ID 3-Kunde ein Jahr lang oder bis zu 2000 kWh umsonst Strom zapfen. Beim Golf GTE trägt dagegen allein der Nutzer die laufenden Kosten. Wer die Umwelt schonen möchte, muss spätestens alle 60 Kilometer den jetzt deutlich kräftigeren 13-kWh-Akku nachladen. Damit hat VW den Null-Emissions-Radius des neuen, 222 km/h schnellen GTE nahezu verdoppelt. E-Motor und Verbrenner mobilisieren gemeinsam 245 PS und 400Nm - doch Vorsicht: Sobald die Ladeanzeige die 20 Prozent-Marke unterschreitet, verabschiedet sich der E-Antrieb und mit ihm 115 PS Leistung. Trotzdem lockt der Hybrid-Golf neben Eco und Comfort auch mit einem ambitioniert abgestimmten Sport-Programm. Bei Kickdown schaltet sich der Verbrenner in allen Fällen automatisch zu. In Zukunft kann der Kunde drahtlos zusätzliche Features nachkaufen, momentan beschränkt sich die Auswahl allerdings auf Alexa, We Connect und mehr Datenvolumen.

Klingt nach Overkill, ermöglicht aber eine breite Feinabstimmung

Selbst der aktuell stärkste Golf VIII zieht mit seiner 150-PS-Maschine keinen Hering vom Teller. Freunde des gestreckten Galopps müssen sich daher noch zwei oder drei Monate gedulden, bis der neue GTI bereit ist, die Rivalen der Rennbahn zu fordern. Die neueste Auflage übernimmt den 245 PS-Motor vom früheren Golf Performance, bleibt dem Frontantrieb treu und glänzt mit traditionellen Insignien wie Karo-Stoffbezügen, Golfball-Schaltknauf und diversen roten Farbtupfern. Drei wichtige Zutaten kosten nach wie vor Aufpreis: das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe, das adaptive Matrix-Licht und die Verstelldämpfer. Neu an Bord ist der Fahrdynamik-Manager, der als oberste Instanz die Regelsysteme koordiniert. Dazu gehören eine Vorderachs-Quersperre, das Stabilitätsprogramm und die erfreulich direkt abgestimmte Lenkung. Mit Hilfe besagter Schieberegler lassen sich sämtliche Funktionen von super-sportlich bis extra-komfortabel in 15 Stufen variieren. Das klingt nach Overkill, ermöglicht aber eine ungewöhnlich breite Feinabstimmung.

Bitte Platz nehmen, anschnallen und das neue GTI-Cockpit auf sich wirken lassen. Was da in der Mittelkonsole ungeduldig glühend rot pulsiert, ist die Startertaste. Der Knubbel dahinter gefällt sich als minimalistische Metamorphose des guten alten Wählhebels. Die Instrumentierung besteht im Sport-Programm aus einen kreisförmigen Display mit Tacho, Drehzahlmesser und Ganganzeige. Leider verstecken sich viele Funktionen in Untermenüs, die erst umständlich zum Leben erweckt werden müssen. Unverändert erstklassig sind dagegen Sitze und Sitzposition, Rumdumsicht und Fahrdynamik. Wir machen die Probe aufs Exempel, starten den hart an der Grenze zur Ruhestörung abgestimmten Ballermann, klicken das Getriebe in Drive und genießen die nun folgende Landpartie. Auf dem welligen Zickzackkurs verharren nur die Dämpfer in Comfort - die restlichen Gene sind im Sport-Modus unterwegs. Nur so hängt der sonore Motor gierig am Gas, schaltet das Getriebe spät hoch und früh zurück, zirkelt die präzise Lenkung den Wagen mit perfekt gewichteter Rückmeldung hurtig um Ecken aller Art. Höchstleistung ist des neuen GTI´s Sache nicht, aber er geht gut (0-100km/h in 6,1 Sekunden, Höchstgeschwindigkeit 250 km/h) wirkt bei aller Agilität geschmeidig und in sich gefestigt.

Die Besten aller Welten? Ja und Nein. Auch der 2021er GTI ist ein quirliger Kurvenkünstler, aber PS-mäßig wäre noch Luft nach oben. Der GTE empfiehlt sich als solide wenn auch ziemlich teure Option für Pendler mit ausgeprägter Reichweitenangst. Der ID 3 hätte bessere Startbedingungen verdient gehabt, denn er kann viel, wird eines Tages wie versprochen unter 30 000 Euro kosten und beweist schon heute mit Nachdruck, dass grünes Denken und Handeln nicht gleichbedeutend sein muss mit Verzicht.

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Quelle:
SZ vom 18.07.2020
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