Süddeutsche Zeitung

Vor dem America's Cup:Fliegen auf Höhe null

Mit völlig neuer Segeltechnik will das BMW-Oracle-Racing-Team im Februar endlich den America's Cup gewinnen.

Joachim Becker

Riesenkraken gehören seit Jahrhunderten zum Gruselinventar der Seefahrt. Mit Tentakeln, die bis an die Mastspitzen reichten, sollen sie Segelschiffe in die Tiefe gezogen haben. So jedenfalls erzählen es Sagen und Fabeln. Ebenfalls fabelhaft, aber Realität ist das, was im Februar nächsten Jahres die Segelwelt in Atem halten wird: Rennyachten, die mit imposanten 75 km/h übers Wasser rasen und deren ausladenden Krakenarme mit Naturphänomenen wahrlich nichts zu tun haben. Denn die kirchturmhohen Schiffe, die um die begehrteste Segeltrophäe der Welt kämpfen werden, sind Wunder der Technik und Ausdruck des monströsen Ehrgeizes von Alphamännchen.

Herausforderer Larry Ellison hatte im Jahr 2000 das BMW-Oracle-Racing-Team ins Leben gerufen, um den America's Cup zurück in sein Ursprungsland zu holen. Ein ehrgeiziger Plan, den der IT-Millionär lässig kommentiert: "Wenn es einfach wäre, würden wir es nicht machen". Unter der Flagge des Golden Gate Yacht Clubs in San Francisco erreichte sein Team 2003 und 2007 das Finale beziehungsweise das Halbfinale, aber beide Male entschied das konkurrierende Alinghi-Team unter Führung von Ernesto Bertarelli die Regatten für sich.

Am 10. Februar 2010 nun treten die Schweizer von der Société Nautique de Genève zur Titelverteidigung an - Wettbewerb Nummer 33, vor dem sich die beiden Teams zahlreiche juristische Gefechte lieferten. Nach den Standardregeln bestimmt der Herausforderer den Yachttyp und der Cupverteidiger das Segelrevier. Ergebnis des Gerangels ist nun, dass die Stiftungsurkunde des Pokals von 1851 freier denn je ausgelegt wird. "Wir können alles tun, um das Boot schneller zu machen", so Christoph Erbelding.

Der Luft- und Raumfahrtingenieur ist bei BMW-Oracle-Racing für die Rigg-Strukturkonstruktion verantwortlich, also für Masten, Tauwerk und Beschläge. Denn das gigantische Tragflächensegel ist das Resultat modernster Strömungsforschung; die 57 Meter Höhe der Kohlefaser-Kevlar-Konstruktion entsprechen annähernd der Spannweite einer Boeing 747. Trotzdem wiegt das Ganze mit 3,5 Tonnen nicht viel mehr als ein klassisches Segel im XXL-Format.

"Bei Rennen mit Mehrrumpfbooten ist niedriges Gewicht besonders wichtig. Denn die Yacht, bei der sich der dem Wind zugewandte Schwimmer zuerst aus dem Wasser hebt, hat einen großen Vorteil", erklärt Erbelding. Und bei der BMW-Yacht, einem Trimaran, hebt der Rumpf gleich mit ab - bei leichter Brise in weniger als 30 Sekunden. Wie ein Eisschnellläufer gleitet der Trimaran dann nur auf einer 27 Meter langen Kufe, während sich der Luv-Schwimmer bis zu zehn Meter hoch über die Wasseroberfläche hebt.

1992 wurden zehn Knoten, also rund 18,5 km/h, an Bord der damaligen Einrumpfboote des America's Cup noch bejubelt. Jetzt sind die Racer mit dem dreifachen Tempo unterwegs, beim Fliegen auf Meereshöhe wird so jeder Fehler zur tödlichen Gefahr. "Wir arbeiten immer an der Belastungsgrenze des Materials, ein falsches Manöver und alles bricht zusammen oder das Boot kentert durch", beschreibt Erbelding das Risiko. Erst vor wenigen Wochen krachte der Riesenmast, noch mit einem konventionellen Segel bestückt, bei Testfahrten vor San Diego aufs Deck; wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Denn unzählige Messfühler und 200 Pressluftsirenen an allen Ecken und Enden des Trimarans warnen die Crew vor Spannungsspitzen. Bei Zugbelastungen der Takelage von bis zu 25 Tonnen wird jedes Segelmanöver zum Drahtseilakt.

Kurz nach dem glimpflich ausgegangenen Unfall hatte das Team von BMW-Oracle-Racing das Wing Sail zum ersten Mal aufgebaut - gehisst wäre das falsche Wort, denn zur Montage ist ein Kran vonnöten. Das bislang größte Flügel-Segel besteht aus einer extrem steifen Fachwerkstruktur; am drehbaren, masthohen Hauptelement hängen elf bewegliche Einzelklappen, die den Luftstrom wie Landeklappen eines Flugzeugs regulieren können.

"Um ein herkömmliches Segel perfekt zu trimmen, braucht man viel Zugkraft", erklärt Luftfahrtspezialist Joseph Ozanne, "bei einem Flügel kann man die gewünschte Form viel einfacher erreichen." Denn während ein Tuchsegel immer etwas bauchig im Wind steht, kann das steife Tragflächensegel besonders bei Kursen hoch am Wind viel mehr Vortrieb erzeugen.

Tatsache ist, dass das Großsegel mit 625 Quadratmeter Fläche eigentlich viel zu groß für das filigrane Leichtboot ist. Doch dank seiner 30 Meter Breite kann der Trimaran 50 Tonnen Winddruck verkraften, bevor er umgeweht wird. Bei den 4,5 Meter schmalen Kielbooten des Jahrgangs 2003 war die Kentergrenze dagegen schon bei 35 Tonnen Winddruck erreicht - und das, obwohl 14 Tonnen Bleiballast in den Kielbomben lagen und die Großsegel um zwei Drittel kleiner waren.

"Unser Trimaran war schon bisher die schnellste Rennyacht aller Zeiten, das Flügel-Segel bringt noch einmal doppelt so viel Power", schwärmt Christoph Erbelding, "bei der Entscheidung für die völlig neue Technik haben wir trotzdem ganz schön geschwitzt." Kein Wunder: Ein konventionelles Segel kann man bei Starkwind reffen, während sich die Oberfläche des Tragflächensegels auf dem Wasser nicht mehr verringern lässt.

Um den Technik-Overkill perfekt zu machen, gingen schließlich auch noch die Grinder von Bord - die Mannschaft schrumpfte von 17 auf sieben Mann, weil eine Hydraulikanlage alle Segelmanöver viel schneller absolviert als die muskelbepackten Männer an den Winschen. Manöver, die bisher sechs Minuten dauerten, können nun gleichzeitig und innerhalb von 20 Sekunden durchgeführt werden. So wird die Rennyacht manövrierfähiger: "Am letzten Tag in San Diego sind wir im Hafen gesegelt, obwohl viele Boote unterwegs waren. Mit einem konventionellen Segel hätte man das nicht einmal in Erwägung gezogen", erzählt Großsegeltrimmer Dirk de Ridder, "doch mit dem Flügel-Segel sind wir in der Lage, schnell zu reagieren und aufzustoppen."

Wie sicher die Riesenkrake tatsächlich ist, wenn sie zwei- bis dreimal schneller als der Wind über das Wasser schießt, wird sich aber erst im Februar in Valencia erweisen.

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Quelle:
SZ vom 21.12.2009/gf
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