Süddeutsche Zeitung

Homeoffice auf dem Rad:Einfach nur wieder Fahrrad fahren

Während der Corona-Krise erleben virtuelle Trainingsplattformen für Radsportler einen mächtigen Boom. Selbst die Profis halten hier ihre Rennen ab.

Von Sebastian Herrmann

Der Countdown ist abgelaufen, das Startsignal ertönt. Feuer frei. Etwa 250 Rennradler stürmen los. Das Tempo liegt hoch, etwas zu hoch für den Augenblick, der Puls schlägt kräftig aus, der erste stille Stoßseufzer fährt durch den Schädel. Aber nach einigen Minuten und einigen Kilometern ist das eigene Tempo erst mal gefunden, eine Position im Peloton eingenommen, und der Herzschlag beruhigt sich wieder etwas. Sogar der Geist klart ein wenig auf, weit genug, um einen Blick darauf zu werfen, was man da eigentlich gerade treibt. Die Gruppenausfahrt führt durch Sandwüsten, durch enge Canyons und hügelige Wälder, in denen mächtige Mammutbäume wachsen. Hin und wieder steht ein Dinosaurier im Gebüsch, klar, warum auch nicht, oder ein Bär purzelt von einem Ast in die Wiese neben der Straße, während man schnaufend vorbeirauscht und das Oberrohr des Rennrads mit dicken Schweißtropfen bekleckert.

"Wo bist du gerade", fragt Markus aus dem Smartphone heraus. Wir sind per Videochat verbunden, um während der Tour in Kontakt zu bleiben, miteinander zu quatschen und dem anderen zuzusehen, wie er sich schindet. Einen Leidensgenossen an der Seite zu wissen, macht vieles erträglicher. "Ein paar Sekunden hinter dir, Markus! Ich hab' dich gleich", schnaufe ich ins Telefon und versuche, einen Tick schneller zu fahren. Die ehrliche Antwort beziehungsweise die analog-korrekte Antwort auf die Frage nach dem aktuellen Aufenthaltsort würde eigentlich anders lauten: Es ist Sonntagvormittag, ich bin in meinem Arbeitszimmer, quasi Home-Office, neben mir sitzen die Kinder, und ich fahre Rennrad im Internet. Das Rad ist in einen sogenannten Smarttrainer eingespannt, statt einem Hinterrad treibt die Kette eine Art Schwungrad an.

Konferenzen lassen sich ja auch per Internet organisieren

Dieses ist per Bluetooth mit dem Rechner verknüpft, der auf dem Schreibtisch steht und auf dem nun in einer Computerspieloptik zu sehen ist, wie man auf dem Rad über Straßen, Hügel, durch Wälder und Wüsten fährt - an diesem Sonntag gemeinsam mit einem Freund, der bei sich zu Hause sitzt und auch gerade strampelt. Und zusammen mit mehreren Hundert anderen Menschen aus der ganzen Welt, die irgendwo zwischen Japan, Italien, Kanada und Kolumbien das Gleiche treiben. Sie alle fahren auf einem Smarttrainer Rad und sind dabei auf der Plattform Zwift unterwegs, dem größten Anbieter digitaler Radelfluchten - der gerade während der Corona-Krise einen Popularitätsschub erlebt: Wer nicht im Freien Rennrad fahren darf, der macht es bei sich zu Hause, Konferenzen lassen sich ja auch übers Internet organisieren.

Die Plattform Zwift existiert seit 2014. Gegründet wurde das Unternehmen von Eric Min und Jon Mayfield aus London, beides Rennradfanatiker und beide mit einem Faible für Computerspiele. Mayfield sah sich irgendwann mit einem sehr bekannten Dilemma konfrontiert: Als junger Familienvater bleibt eben nicht mehr so viel Zeit, um Hobbys zu pflegen, und Rennradfahren ist nun mal ein sehr zeitintensives Hobby. Da beginnt die Suche nach der Lücke im Tag, in der noch was geht.

Zwift kombiniert die Rolle mit einem Computerspiel

Die ganz Motivierten setzten sich dann lange Zeit auf eine Rolle, für das Wintertraining oder weil keine Zeit für eine Fahrt im Freien blieb. Dabei wurde das Rennrad so in ein Gerät eingespannt, dass das Hinterrad eben auf einer Rolle läuft und man im Trockenen strampeln konnte. Das hatte erhebliche Nachteile: Erstens schwitzt man ohne Fahrtwind wie verrückt, zweitens ist das Training auf einer Rolle so stinkfad, dass man schier verrückt wird. Mayfield also kombinierte beides: Er schuf ein Computerspiel, das er mit der Rolle verknüpfte. Auf dem Bildschirm bewegt sich ein Avatar, die Rolle gibt mehr Widerstand, wenn es bergauf geht, und weniger, wenn der Kurs bergab führt oder man im Windschatten hinter einem anderen Fahrer hängt.

21 Renntage

dauert die Tour de France. Ob das größte Radrennen der Welt in diesem Jahr stattfinden kann, war bis Redaktionsschluss dieses Beitrags unklar. Viele andere Radrennen, beispielsweise die Frühjahrsklassiker in Belgien und Nordfrankreich, wurden wegen der Corona-Pandemie verschoben oder bereits ganz abgesagt. Das trifft die Fans in Radsportländern wie Italien, Belgien oder Spanien ähnlich hart wie die Zwangspause der Bundesliga die Fußballnation Deutschland.

Die Computerspieloptik und unzählige Game-Features verleihen damit sogar dem eigentlich recht langweiligen Rollentraining einen eigenen Reiz. Und die ganze Sache hat einen weiteren, erheblichen Vorteil: Weil da etwas auf einem Bildschirm passiert, hocken die Kinder an diesem Sonntag im Arbeitszimmer wie elektrisiert fast drei Stunden lang neben ihrem schweißnassen Vater, feuern ihn an, reden dazwischen, glotzen auf den Bildschirm, bringen zwischendurch Marmeladenbrote und Wasser. Nie war es leichter, familienfreundlich zu radeln: Die Mutter hat frei, und der Vater betreut keuchend die Kinder, während er radelt.

Die Plattform Zwift hat in den vergangenen paar Jahren zunehmend Popularität gefunden, so sehr, dass sich bereits eine Art Gegenbewegung gebildet hat. Wer im Winter bei Schlamm, Matsch und Kälte unterwegs war, hat die Details seiner Fahrt später bei Strava - dem größten sozialen Netzwerk für Radler - gerne mit dem Hashtag #siffstattzwift versehen. In Zeiten der Corona-Krise klingt dieses weltanschauliche Tugendsignal hohl, jetzt geht es für viele darum, einfach noch Fahrrad fahren zu können - gerne zusammen mit anderen.

Bei Zwift lassen sich auch Nachrichten austauschen, zum Beispiel direkt vor dem Start einer Gruppenausfahrt oder eines Rennens. Es fällt dabei ständig das Wort Corona, und es sind sehr viele Menschen aus Italien, Spanien oder Frankreich unterwegs, wo die Ausgangsbeschränkungen teilweise sehr drastisch ausgelegt sind und Fahrten im Freien untersagt wurden.

Auch der Profi-Rennradsport zieht sich gerade ins Home-Office zurück. Anfang April wird in Belgien seit 1913 die Flandern-Rundfahrt ausgetragen, eines der populärsten Eintagesrennen überhaupt und eines der sogenannten Monumente des Radsports. Wegen der Pandemie wurde das Rennen abgesagt und stattdessen eine Art Ersatzdroge verabreicht: Eine Flandernrundfahrt bei Zwift, die der belgische Profi und Olympiasieger Greg van Avermaet auf seinem Smarttrainer für sich entschied und danach tapfer erklärte, er habe Spaß bei der ganzen Kurbelei gehabt

Die Gamification des Rollentrainings

"Du hast eine Belohnung bekommen", schreit der Neunjährige im Arbeitszimmer und grapscht sich die Computermaus, um irgendwo draufzuklicken. Kurzer Stress, der schmeißt einen doch jetzt nicht aus dem Rennen, oder? In der Gamification des Rollentrainings liegt vermutlich das Geheimnis des Erfolgs von Zwift und auch des Umstandes, dass es einen selbst auch ein wenig packt. Für gefahrene Strecken gibt es Schweißpunkte, für die man virtuelle Räder erwerben kann. Nach und nach klettert man als Radler die Levels empor und schaltet neue Strecken frei: Diese entsprechen echten WM-Rennkursen, in Innsbruck, Yorkshire, Richmond. Oder sie führen durch London, New York sowie die Fantasieinsel Watopia, auf der es einen L'Alpe d'Huez nachempfundenen Anstieg gibt.

Die Technik - also die Hardware - lässt sich leicht bedienen. Die Testfahrten finden auf einem Wahoo Kickr Core (Preis: ca. 799 Euro) statt. An das Schwungrad muss noch ein Ritzelpaket - die Zahnräder - montiert und das Rennrad ohne Hinterrad eingespannt werden, das war's. Wer noch mehr Spielerei oder etwas technischen Gimmick mag, kann die Gabel des Rennrads vorne in einen Wahoo Kickr Climb (ca. 549 Euro) einspannen. Das Gerät fährt ein und aus, je nachdem ob es in den virtuellen Welten bei Zwift gerade bergauf oder bergab geht, das ist ganz lustig, aber nicht wirklich nötig. Wichtiger ist ein Ventilator, weil der kühlende Fahrtwind fehlt. Ein Handtuch in Griffweite ist auch keine schlechte Idee. "Schneller Papa, der hat dich überholt", schreien die Kinder. Wo ist eigentlich Markus? Weiter, weiter, im Home-Office gibt es auch viel zu tun, zum Glück.

Hinweis der Redaktion

Ein Teil der im "Mobilen Leben" vorgestellten Produkte wurde der Redaktion von den Herstellern zu Testzwecken zur Verfügung gestellt und/oder auf Reisen präsentiert, zu denen Journalisten eingeladen wurden.

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Quelle:
SZ vom 11.04.2020/reek
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