Vernetzte Autos:Selbst Geisterfahrer verlieren ihren Schrecken

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Pionier der Fahrzeugsicherheit: Mercedes vernetzt seine Modelle schon heute. Allerdings nicht direkt – alle Daten laufen über die Mobilfunknetze.

(Foto: Daimler)

Wenn Autos in Millisekunden Hinweise austauschen, können Gefahren und Unfälle vermieden werden. Doch statt die Straßen sicherer zu machen, zoffen sich die Hersteller.

Von Joachim Becker

Ein VW Golf bleibt ein Golf, bleibt ein Golf. Keine Experimente ist das Motto für Europas meistverkauften Pkw. Auch die achte Modellgeneration wird ein Auto der Vernunft bleiben. Was sich ab dem nächsten Sommer ändert, ist die Schwarmintelligenz des kantigen Kompakten. Erstmals kann sich der Golf mit seinesgleichen direkt austauschen - ohne Umweg über das Mobilfunknetz. Modernste Fahrzeugsicherheit als Serienausstattung: Damit überholt der Verkaufsschlager selbst die automobile Oberklasse.

40 Jahre ist es her, dass der erste elektronische Schutzengel im Auto landete. 1978 führte Mercedes die "Stotterbremse" ABS ein. Die Sonderausstattung kostete stolze 2217,60 Mark. Heute sind das Antiblockiersystem und der Schleuderschutz ESP Standard in Europa. Aber nur fünf Prozent der Autos werden mit einem Abstandstempomaten (Adaptive Cruise Control) ausgeliefert. Das aktive Sicherheitssystem ist relativ teuer, deshalb erreicht ACC die höchste Ausstattungsrate mit 28 Prozent in Fahrzeugen der oberen Mittel- und Oberklasse. Was fehlt, ist ein intelligenter Schutzengel für kleines Geld, der möglichst schnell Verbreitung findet. So wie die Wlan-Technologie, die fast jeder als kabelloses Netzwerk von zu Hause kennt.

Am Übertragungsstandard scheiden sich die Geister

Keine Experimente: Das gilt auch für die Vernetzungstechnologie im nächsten Golf. In Hessen funken Wanderbaustellen ihre Position schon heute mit dem öffentlichen pWlan an ihre direkte Umgebung. Ein entsprechend ausgerüstetes Auto zeigt die Warnmeldung im Infotainment an, zehn Sekunden bevor es auf die Baustelle trifft. Auch Warnungen vor Blitzeis oder einem Stauende lassen sich mit Adhoc-Netzwerken von einem Fahrzeug zum nächsten weiterreichen. Das öffentliche Wlan im Auto funktioniert also wie ein externer Sensor, der weiter reicht als die bordeigene Elektronik und selbst durch Hauswände "blicken" kann. So können Autos oder Fußgänger einander auch warnen, wenn sie sich an unübersichtlichen Kreuzungen auf Kollisionskurs befinden. Selbst Geisterfahrer verlieren ihren Schrecken, wenn die Fahrzeuge in Millisekunden Botschaften austauschen. Vorausgesetzt, sie funken nicht nur auf der gleichen Wellenlänge von 5,9 Mhz, sondern sprechen auch dieselbe Sprache. Genau an diesem Übertragungsstandard scheiden sich die Geister.

Auf Elektronikmessen wie der CES in Las Vegas und Shanghai sind die "Talking Cars" ein vertrautes Thema. Nur in Europa herrscht beim spontan vernetzten Fahren noch weitgehend Funkstille. VW und Siemens wollen die kooperativen Systeme nun in Wolfsburg erproben. Auf einem Straßenabschnitt sollen Ampeln das jeweils beste Tempo für eine "grüne Welle" vorschlagen. Große herstellerübergreifende Flottentests hat es bereits von 2008 bis 2013 unter dem Projektnamen Sim-TD (Sichere und intelligente Mobilität - Testfeld Deutschland) gegeben.

Passiert ist seitdem wenig, weder Autobahnen noch Städte wurden mit pWlan-Basisstationen ausgerüstet. Mittlerweile hat das System einen ernst zu nehmenden Wettbewerber bekommen: Moderne Mobilfunkchips funktionieren wie Walki-Talkis: Auch ohne Netzabdeckung können sie über mehrere Hundert Meter Entfernung verkehrsrelevante Informationen austauschen.

China erprobt bereits mobilfunkbasierte Infrastruktur

Während die Talking Cars in Europa im endlosen Blabla der Arbeitsgruppen feststecken, werden in China Fakten geschaffen: Das intelligent vernetzte Fahrzeug (ICV) ist fester Bestandteil des staatlichen Entwicklungsplans "Made in China 2025". In der Millionenmetropole Wuxi wird bereits eine mobilfunkbasierte Infrastruktur erprobt - auf 170 Quadratkilometer Stadtfläche. Bis 2020 sollen mehr als 100 000 kommerzielle Fahrzeuge an dem Test teilnehmen. Schon heute senden 600 Basisstationen Adhoc-Meldungen über Baustellen, Pannenfahrzeuge und andere gefährliche Situationen. Intelligente Ampeln an 226 Straßenkreuzungen können ihren Signalstand weitergeben.

Dieser Form von Vernetzung gehöre die Zukunft, meint Enrico Salvatori, Qualcomm-Präsident in Europa. Kein Wunder, denn der Hersteller von Mobilfunkchips würde von der neuen Technologie profitieren. "Der Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommunikation wird eine wesentlich größere Bedeutung zukommen als die viel gelobten Automatisierungstechniken", betont Salvatori: "Leistungsstarke Funknetze sowie optimierte Protokolle und Standards sind vonnöten, um dem Fahrsystem alle Informationen zur Verfügung zu stellen, die es benötigt." Dass selbstfahrende Autos am besten im Schwarm funktionieren, bestreitet niemand. Die Frage ist, ob man deshalb auf ein Hochgeschwindigkeitsnetz der nächsten Generation (5G) warten muss, das 20 Mal schneller ist als das heutige 4G. Die europäischen Lastwagenhersteller drängen daher auf eine schnelle Lösung mit pWlan, weil sie Truck-Konvois schon 2020 mit einer elektronischen Deichsel verbinden wollen (Platooning).

pWlan oder doch besser 5 G-Netz?

"Wir haben die pWlan-Technologie lange mit allen Autoherstellern und Straßenbetreibern erforscht und homologiert. Jetzt zählt vor allem die Frage, wer als Erster auf den Markt kommt", betont ein VW-Insider, der nicht namentlich genannt werden möchte: "Volkswagen hat mit dem großen Volumen einen großen Vorteil. Wir schaffen mit der Serieneinführung von pWLAN im VW Golf 2019 und wenig später bei den Lkw einen faktischen Standard."

Das Problem ist nur: Die pWlan-Infrastruktur steht in direkter Konkurrenz zu dem 5G-Netz, das die Bundesnetzagentur demnächst ausschreibt. Ein lückenloses Hochgeschwindigkeitsnetz soll das ganze Land in die Zukunft katapultieren. "Wenn Europa sein Ziel ernst meint, ein Leitmarkt für vernetzte und automatisierte Fahrzeuge werden zu wollen, muss es die 5G-Technologie schnell umsetzen", mahnt BMW-Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich: "Derzeit sind hier unter anderem China und Südkorea führend."

Mercedes-Entwicklungsvorstand Ola Källenius fordert ein entsprechendes Netzwerk mit hohen Datenraten von mehr als 500 Mbit/s nicht nur entlang der Autobahnen, sondern für alle Straßen. Mercedes ist wie Audi, BMW und Ford Mitglied der 5 GAA-Initiative, die sich gegen eine pWlan-Infrastruktur parallel zum 5G-Netz wendet. Man könne schon 2020 weiterentwickelte LTE-Funkchips nutzen, um die Autos direkt miteinander kommunizieren zu lassen.

In einem Brandbrief an die EU-Kommission warnte die 5 GAA im Juli, Europa könne zurückfallen, wenn Brüssel nicht zumindest Technologie-offen entscheide. Im Dezember soll mit dem "Delegated Act" über technische Standards und Fördermaßnahmen für das Kommunikationssystem entschieden werden.

Die EU hat bereits 350 Millionen Euro in pWLAN-Pilotprojekte investiert. Doch in der digitalen Welt spielen Systemkosten nur eine Nebenrolle. Wirtschaftlich erfolgreich sind vor allem Techkonzerne wie Amazon und Alphabet (Google), die über Branchengrenzen hinausdenken. Wer einen Digitalstandard allein für die Automobilindustrie plant, wird schnell an die Grenzen des Wachstums stoßen. Zumal in China ohnehin alle Hersteller (inklusive VW) auf die mobilfunkbasierte Lösung setzen. Wie auch immer: Bosch hat einen hybriden "Weltempfänger" vorgestellt, der mit allen Kommunikationsstandards funktioniert. Der Serienstart der Connectivity Control Unit ist aber erst für 2021 geplant. Bis dahin hat VW schon mehrere Hunderttausend Golf mit pWlan verkauft.

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