Verkehrssicherheit:"Wir nehmen zusätzliche tote Radfahrer in Kauf"

Mahnwache für getöteten Fahrradfahrer

Mahnwache für einen ums Leben gekommenen Fahrradfahrer im Juni in Berlin: International ist es in der Szene Brauch, ein weiß angestrichenes Fahrrad an der Stelle zu drapieren, an der der Radler ums Leben kam.

(Foto: dpa)

Wer sich im Straßenverkehr an Regeln hält, ist oft der Dumme: Unfallforscher Siegfried Brockmann über zu schmale Radwege und zu breite Egos in Deutschland.

Interview von Thomas Hummel

Siegfried Brockmann, 58, ist Leiter der Unfallforschung der Versicherer. Diese hat den Auftrag, die Verkehrssicherheit in Deutschland zu untersuchen und verbessern. Die Unfallforscher fertigen unter anderem zu Radfahrern umfangreiche Studien an.

SZ: In Deutschland stirbt alle 22 Stunden ein Radfahrer, alle 36 Minuten verletzt sich einer schwer. Akzeptiert das die Gesellschaft einfach?

Siegfried Brockmann: Das gilt im Grunde für alle Schwerverletzten und Toten im Straßenverkehr, auch für Fußgänger oder Autofahrer. Wir haben uns offenbar dazu entschieden, dass unsere Mobilität eine gewisse Opferzahl mit sich bringt. Nach dem Busunglück auf der A 9 mit 18 Toten Anfang Juli gab es Sondersendungen auf allen Kanälen. Doch über den täglichen Blutzoll auf den Straßen regt sich niemand auf.

Wer sich in Deutschland täglich mit dem Rad einige Kilometer durch die Städte bewegt, der hat den Eindruck: Würde er immer seine Vorfahrt durchsetzen, wenn er sie laut Verkehrsordnung hat, würde er keine drei Tage überleben.

Davon bin ich überzeugt. Das liegt daran, dass Autofahrer manchmal durch Radfahrer durchgucken, sie nicht wahrnehmen. Ich würde den meisten keine Bosheit unterstellen. Viele sind einfach überfordert im Verkehr.

Die Zahlen der toten und verletzten Radfahrer ging in den vergangenen Jahren weit langsamer zurück als die anderer Verkehrsteilnehmer. Woran liegt das?

Bei der Sicherheit der Autofahrer hatten wir die größten Erfolge mit technischen Verbesserungen - stabile Fahrgastzelle, Gurt, Airbag, etc. Das scheidet beim Fahrrad aus. Damit bleiben uns nur zwei Ansatzpunkte: Erstens der Mensch, der sehr schwierig zu fassen ist. Ihn zu einem besseren Verhalten zu bringen, geht gar nicht oder ist sehr zäh. Zweitens die Infrastruktur.

Was sind hier die Erkenntnisse?

Bund, Länder, Kommunen, Verbände und Wissenschaftler berufen sich auf die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen, genannt ERA, aus dem Jahr 2010 als Kanon, wenn es um die Mindestausstattung von neuen Radwegen geht (einsehbar hier). Sie sind aber nicht das Ende der Entwicklung, wir brauchen hier mehr Demut vor dem Problem. Auch in den Siebziger- und Achtzigerjahren haben Planer im damals besten Wissen und Gewissen Radwege angelegt, bei denen wir heute wissen, dass sie einfach nicht funktionieren. Da wurden unglaubliche Fehler gemacht. Aber es gab damals auch viel weniger Radfahrer.

Diese alte Infrastruktur gibt es noch in weiten Teilen. Was sind die erheblichsten Fehler?

Zum Beispiel die Trennung von Auto- und Radweg, aber keine Trennung von Rad- und Fußverkehr. Das ist ein großes Problem etwa bei Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs, wo quasi zwingend Konflikte zwischen Fußgängern und Radfahrern entstehen. Dann sind Radfahrer in Kreuzungen und Straßen-Einmündungen oft kaum zu sehen für den Autofahrer. Und die Radwege sind einfach zu schmal.

Wie breit sollte ein Radweg sein?

Das Regelwerk sagt: mindestens 1,50 Meter. Wobei sich die Fachleute einig sind, dass man das Wort "mindestens" drei Mal unterstreichen müsste. Eigentlich braucht man zwei Meter. Weil immer mehr Radfahrer unterwegs sind und es die Möglichkeit geben muss, sich gefahrlos zu überholen.

Sie sagen, selbst die aktuellen Empfehlungen sind nicht das Ende. Woran machen Sie das fest?

In den vergangenen Jahren hieß es: Der Radweg ist des Teufels. Wir brauchen Wege auf der Straße, damit der Radfahrer ständig im Sichtbereich des Autofahrers ist. Nun hat jede Stadt solche Radstreifen auf die Straße geklebt, das ist vergleichsweise kostengünstig. Der Effekt ist, dass sich Autofahrer herzlich dafür bedanken, auf dem Weg zum Bäcker oder zur Sparkasse eine schöne, breite Parkmöglichkeit direkt vor der Tür zu haben. Die Polizei kann gar nicht so schnell abschleppen, wie da wieder ein neuer Wagen auf dem Radweg steht. Vor allem in Großstädten funktioniert das einfach nicht.

Ein Problem wird gelöst - und sofort entsteht ein neues?

Der Radfahrer muss sich wegen der parkenden Autos in den fließenden Verkehr einfädeln, das ist nicht ungefährlich. Also fordert der ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club) Abtrennungen zwischen Fahrbahn und Radweg mit Blumenkübeln oder Ähnlichem. Meine Prognose ist: Wenn wir die Blumenkübel haben, merkt der Radfahrer, dass die Hindernisse auch für ihn eine gewisse Gefahr darstellen. Weil er vielleicht selbst mal den Radweg nach links verlassen muss, wenn vor ihm eine Gefahrensituation entsteht.

Verkehrsklima in Deutschland? "Der Stärkere setzt sich durch"

Das klingt nach schwierigen Kompromissen.

Bei der Rad-Infrastruktur sind wir in einer Art "Work in Progress". Vieles, was wir heute tun, werden wir später widerrufen. Da die Politik aber massiv zu mehr Radverkehr aufruft, halte ich das für eine Operation am offenen Herzen. Wir nehmen hier praktisch zusätzliche Tote in Kauf. Denn wir wissen: Wenn wir neue Radfahrer anziehen, lassen wir sie auf eine veraltete Infrastruktur los. Und selbst dort, wo sie neu ist, hat sie Fehler. Zudem wissen wir nicht, wie wir diese Fehler endgültig abstellen sollen.

Wer mehr Radverkehr will, muss wohl anderen Verkehrsteilnehmern Platz wegnehmen.

Das ist von vornherein klar. Das ist ein Konflikt um die Fläche, weil diese nicht beliebig vermehrbar ist. Wo ich einen komfortablen Radweg von zwei Metern auf die Straße setze, muss eine Fahrbahn für Autos verschwinden. Aber da kann ich mich als Unfallforscher entspannt zurücklehnen. Denn das ist ein demokratischer Prozess, das müssen die Bürger untereinander ausmachen und die jeweiligen Parteien wählen.

Gibt es kein Vorbild für die perfekte Fahrradstadt? Kopenhagen oder Amsterdam haben massiv in den Radverkehr investiert.

Dort hat sich der Radverkehr in ganz andere Dimensionen entwickelt. Entscheidend ist für mich, dass dort ein ganz anderes Verkehrsklima herrscht. Auto- und Radfahrer gehen da anders miteinander um.

Wie ist das Klima dort?

Zugewandter, freundlicher. Wir haben in Deutschland leider eine Atmosphäre auf der Straße nach dem Motto: 'Der Stärkere setzt sich durch'. Der Leitgedanke der Autofahrer lautet nicht: 'Ich will heute niemanden verletzen.' Sonst würden sie ganz anders fahren. Ein Beispiel: Ein Autofahrer fährt auf eine grüne Ampel zu, diese springt auf Gelb um, und er spürt: Da kommt er nur drüber, wenn er noch mal richtig Gas gibt. Es ist eine weit verbreitete Untugend, dann schnell auf 70 oder 80 km/h zu beschleunigen, um noch bei Dunkelgelb drüberzufahren. Das sind sehr kritische Situationen, vor allem, wenn etwa Radfahrer bei Noch-nicht-Grün schon aus der Querstraße fahren. Von der Seite gibt es natürlich auch Regelverletzungen.

Das härtere Klima vergrößert das Problem für Verkehrsplaner?

Es ist schwerer lösbar. Die Konfliktorte Kreuzung und Einmündung kann man dann nur eliminieren, wenn man Auto- und Radverkehr komplett trennt. Etwa mit einer eigenen Ampelphase für Radfahrer: wenn der geradeaus fahrende Radfahrer Grün hat, hat der rechtsabbiegende Autofahrer Rot. Das muss die Politik aber sorgsam durchrechnen, denn wenn dadurch riesige Autostaus entstehen, dann freut sich vielleicht die Rad-Lobby, aber die Bürger tragen das nicht mit. Und wer sagt uns, dass die Radfahrer dann auch bei Rot halten? Ampeln haben für viele Radfahrer etwa in Berlin allenfalls Hinweischarakter. Wenn eine Kommune nun viel Geld in die Hand nähme für komplizierte Ampelschaltungen, und dann fahren die Radfahrer trotzdem, wann sie wollen, dann kann man sich den Zirkus sparen.

Sie fahren wohl nicht mit dem Rad zur Arbeit.

Garantiert nicht, aber ich habe es mit 17 Kilometern auch etwas weit. Ich würde es in Erwägung ziehen, falls auf meinem Arbeitsweg wie geplant ein Radschnellweg in die Berliner Innenstadt gebaut wird. Solche Schnellwege sind ja das neue Heiligtum der Rad-Verbände. Das Problem aber ist: Der Radschnellweg ist irgendwo zu Ende und trifft auf den Rest der veralteten Infrastruktur. Das ist kein verantwortungsvolles Planen.

Durch Zuzug gibt es in den Städten immer mehr Verkehrsteilnehmer und Konflikte. Der Eindruck drängt sich auf: Es fehlen Strategien, wie man damit umgehen will.

Ich stimme dem zu. Ein Beispiel: Die Polizei hat flächendeckend umgestellt vom Legalitätsprinzip zum Opportunitätsprinzip. Sie hat nicht die Leute, um die Straßenverkehrsordnung und andere Gesetze immer durchzusetzen, weshalb sie sich auf die schwerwiegenden Delikte konzentriert. So haben wir uns daran gewöhnt, dass sie viele Verstöße nicht mehr ahndet. Im Verkehr ergeben sich daraus Konsequenzen. Wer sich über die Regeln hinwegsetzt, hat einen Vorteil. Wenn ein Autofahrer seinen Wagen direkt vor dem Fitnesscenter im Halteverbot abstellt, er nach drei Stunden zurückkommt und keinen Strafzettel hat. Oder ein Radfahrer fährt bei Rot über die Ampel, die anderen schauen ihm hinterher und denken sich: Sind wir blöd? Der andere wird sowieso nicht bestraft, warum sollen wir hier stehen bleiben? Und der Rotfahrer fühlt sich bestätigt, weil er schneller ans Ziel kommt. Solche Delikte nehmen extrem zu.

Gerade Radfahrer erscheinen hier anfällig, weil viele Regelverstöße als relativ klein wahrgenommen werden. Mit dem Auto über die rote Ampel zu fahren, wird ganz anders bewertet.

Noch. Die Radfahr-Lobby fordert weitere Aufweichungen bis hin dazu, dass rote Ampeln generell nicht mehr verbindlich sein sollen für Radfahrer. Das würde dazu führen, dass sich auch der Autofahrer fragt, warum er stehen bleiben soll. Noch ist hier eine Hemmschwelle, aber ich bin nicht sicher, ob die ewig hält.

Die Polizei müsste also durchgreifen?

In Berlin gibt es seit 2014 eine Fahrradstaffel von der Polizei mit 20 Beamten. Das führte zu einer fühlbaren Präsenz auf den Straßen und es funktioniert. Offenbar wirkt die Ansprache der Polizisten von Radfahrer zu Radfahrer sehr gut. Zudem ist nach einem Verstoß die Verfolgung mit dem Rad leichter als mit dem Auto.

Gingen die Unfallzahlen zurück?

Der Erfolg ist eindeutig, die Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung wurden geringer, die Zahl der Unfälle auch. Außerdem hat sich das Klima verbessert, bei zwei Umfragen haben das Autofahrer und Radfahrer unisono bestätigt. Doch die Beamten sind in einem relativ kleinen Gebiet unterwegs. Sollen sie eine ganze Stadt überwachen, müsste die Polizei viel mehr Beamte abstellen. Ich bezweifle, dass sie dazu bereit ist.

Zum Radfahrer selbst. Die Statistik besagt, er fährt immer schneller.

Wir haben heute ganz andere Radfahrer. Früher kauften sich junge Leute ein Auto oder ein Motorrad. Heute steigen gerade sie aufs Rad und fahren sportlich. Allein dadurch geht die Durchschnittsgeschwindigkeit der Radfahrer nach oben. Dazu werden die Räder immer besser.

Was kommt da mit den E-Bikes und Pedelecs auf die Städte zu?

Wir haben rasante Zuwächse bei den Pedelec-Unfällen. Jährlich werden zehn Prozent mehr Pedelecs verkauft, die Unfallzahlen mit Verletzten gingen aber um 25 Prozent nach oben. Maßgeblich dafür ist, dass die allermeisten Pedelec-Fahrer Senioren sind.

Senioren sind die am meisten betroffene Gruppe bei verletzten Radfahrern.

Da täuscht uns allerdings die Statistik. Aus einer Studie in Münster, die wir gemeinsam mit Krankenhäusern und Polizei gemacht haben, kennen wir die Dunkelziffer bei Rad-Unfällen. Nur einen von vier Unfällen, bei dem ein Radfahrer in ein Krankenhaus musste, erfasste die Polizei und er ging in die Statistik ein. Dazu gehen viele nur zum Hausarzt oder kleben sich ein Pflaster aufs Knie. Die reale Dunkelziffer ist viel höher. Ausnahme sind die Senioren, weil diese viel verletzlicher sind als junge Menschen. Da werden die allermeisten Unfälle gemeldet und registriert.

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