Süddeutsche Zeitung

Verkehrssicherheit:Stau vorm Klassenzimmer

Weil Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren, kommt es dabei oft zu chaotischen Szenen. Ein Automobilklub will das nun ändern - und postiert sich dazu vor so mancher Bildungseinrichung.

Von Christine Frischke/dpa

Kurz vor acht Uhr morgens wird es vor der Stuttgarter Grundschule Sommerrain hektisch. Gleich beginnt die erste Stunde, und auf der schmalen Straße rollt Auto um Auto heran. Türen werden aufgerissen, Schulranzen aus Kofferräumen gewuchtet. Einige Eltern nehmen ihre Kinder an der Hand und geleiten sie bis vors Schultor. Andere Sprösslinge hüpfen unbekümmert auf der Straßenseite aus dem Wagen - ohne zu schauen, ob sich bereits das nächste Fahrzeug annähert.

Mit jedem haltenden Auto füllt sich die Liste der ehrenamtlichen Mitarbeiter des Auto Club Europa, kurz: ACE. Sie haben sich an diesem Montagmorgen vor der Schule positioniert, um mögliche gefährliche Situationen im Straßenverkehr zu dokumentieren. Im Halteverbot geparkt? Ein Strich. Auf dem Gehweg gehalten? Ebenfalls ein Strich. Auf der Fahrbahnseite ausgestiegen? Noch ein Strich.

Mehr als 50 Autos zählen die Aktiven des Automobilklubs, 18 Verkehrsverstöße halten sie fest. Dabei wohnen viele der etwa 450 Grundschüler nur wenige Minuten Fußweg von der Schule entfernt. "Vor vielen Schulen im Land herrscht vor Schulbeginn Chaos", sagt Winfried Hermann (Grüne), Verkehrsminister des Bundeslandes Baden-Württemberg.

"Wir waren überrascht, wie viele Eltern ihre Kinder fahren", berichtet der Regionalbeauftragte des ACE, Reinhard Mohr, und schildert eine besonders brenzlige Situation: Ein "Elterntaxi" hielt mitten auf der Straße an. Ein Kind stieg aus, ohne auf den Verkehr zu achten - und wurde fast von einem Postmitarbeiter auf einem Elektrorad erfasst. "Er konnte gerade noch abbremsen." Und was sagen die Chauffeure? Der Vater eines Zweitklässlers hat seinen Wagen "nur kurz" im Kreuzungsbereich gestoppt. Den rund 20-minütigen Schulweg möchte er seinem jungen Sohn noch ersparen, erklärt er. "Wenn er größer ist, dann kann er sich auch allein an der Straße zurechtfinden." Auch die Mutter eines anderen Zweitklässlers findet es sicherer, ihren Jungen zur Schule zu fahren.

Eine andere Mutter wiederum argumentiert, es sei einfach praktischer, den Nachwuchs auf dem Weg zur Arbeit mitzunehmen und direkt vor der Schule abzusetzen. Dagegen nur ausnahmsweise fährt die Mutter einer Viertklässlerin mit dem Auto vor, wie sie versichert: "Wir haben wegen der Zeitumstellung verschlafen." Normalerweise laufe die Tochter zur Schule. "Heute musste es einfach schnell gehen."

Man höre oft ähnliche Argumente, sagt ACE-Beobachter Mohr: Die Eltern haben es eilig, müssen Termine wahrnehmen, das Kind irgendwie in den Tagesablauf integrieren. "Bequemlichkeit kommt eher nicht zur Sprache." Die Sommerrainschule bemüht sich aktiv, den Verkehr vor den Klassenzimmern einzudämmen. Wer sein Kind anmeldet, bekommt ein Merkblatt ausgehändigt. Die Bitte darauf: Den Nachwuchs zu Fuß zur Schule bringen - oder, wenn nicht anders möglich, zumindest in einiger Entfernung an sicheren Stellen zu parken. Schüler, die zu Fuß kommen, sammeln außerdem Punkte. Das soll Anreize schaffen und - so die Hoffnung - mit den Kindern die Eltern gleich miterziehen. Auch in vielen anderen Orten, auch im ländlichen Bereich, appellieren zum Beispiel die Bürgermeister an die Eltern, auf die Autofahrt zu verzichten.

"Viele Eltern wissen eigentlich, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist", sagt Schulleiterin Ruth Möller in Stuttgart. Doch gerade Familien, die im näheren Umkreis leben, seien mitunter am schwersten zu belehren. Zumal sie auch ein gewisse Portion Verständnis mitbringt für manche Sorgen der Eltern. Im Jahr 2016 war es in der Nähe der Schule zu einem schweren Unfall gekommen. Ein Lastwagen hatte eine rote Ampel übersehen und einen Grundschüler erfasst. Der Junge überlebte schwer verletzt. "Das allerwichtigste ist, dass die Kinder gesund hier ankommen", sagt Mohr. Darum trainieren Lehrer zweimal jährlich den Schulweg mit den Klassen.

Unterstützt wird Möller vom Landesverkehrsministerium. An vielen Schulen im Land seien es gerade die Eltern, die zum Verkehrschaos und damit auch zur Unfallgefahr beitragen würden, heißt es aus dem Haus von Minister Hermann. Beim Rangieren vor den Schulen entstünden oft gefährliche Situationen. Er will Eltern mehr in die Pflicht nehmen: "Sie missachten, dass sie durch ihr Verhalten die Sicherheit aller anderen Kinder im Verkehr gefährden." Kinder sollten frühzeitig lernen, sich im Straßenverkehr zu bewegen. Nicht zuletzt sei das Zufußgehen auch gesünder.

Hermann hat die Schirmherrschaft für die ACE-Aktion "Goodbye Elterntaxi" übernommen. Noch bis zu den Sommerferien analysieren Ehrenamtliche des Automobilklubs bundesweit die Situation vor ausgewählten Schulen. In Baden-Württemberg sind 13 Zähl- und Beobachtungsaktionen geplant.

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SZ vom 13.04.2019
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