Verkehrssicherheit:In New Hampshire haben sie es nicht geschnallt

New Hampshire Veteran Kennzeichen

Lebe frei oder stirb: Das Motto des US-Bundesstaates New Hampshire betont die Selbstbestimmung. Der Gurt wird da schon als Zwang empfunden.

(Foto: Steve Przybilla)

Aktivisten fordern endlich eine Anschnallpflicht im letzten US-Bundesstaat, der darauf verzichtet. Doch die Unfallstatistik gibt den Gurtmuffeln recht.

Reportage von Steve Przybilla

Debbie Morrill hat sich ihr Leben lang noch nie angeschnallt. "Warum auch?", fragt die 61-Jährige, die als Hotelmanagerin in der amerikanischen Kleinstadt Portsmouth arbeitet. "Ich bin ein Kind der 60er-Jahre", erklärt die resolute Dame. "Damals", sagt sie voller Stolz, "wurde die Freiheit noch großgeschrieben. Nicht überall nur Gesetze und Vorschriften. Hat's uns geschadet? Ich glaube nicht. Von meinen Kindheitsfreunden sind jedenfalls alle noch am Leben."

So denken viele in New Hampshire, einem Landstrich mit gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnern, der im Norden an Kanada und im Südosten an den Atlantik grenzt. Freiheit gilt dort seit jeher als oberste Maxime. 1776 war New Hampshire mit die erste Kolonie, die den Briten die Unabhängigkeit erklärte, woher auch das offizielle Staatsmotto rührt: "Live Free or Die", lebe frei oder stirb. Noch heute darf man diesen Satz wörtlich nehmen, zum Beispiel im Straßenverkehr: New Hampshire ist der einzige US-Bundesstaat ohne gesetzliche Anschnallpflicht, zumindest für alle, die älter als 18 Jahre alt sind.

Pädagogik per Schock-Video

Nicht, dass es noch niemand versucht hätte. Howard Hedegard etwa kämpft seit fast 30 Jahren für eine Gesetzesänderung. Der Experte für Verkehrssicherheit steht regelmäßig vor Schulklassen, um jungen Menschen den Gurt schmackhaft zu machen - denn verboten ist das Anschnallen ja nicht, nur nicht vorgeschrieben. "Wenn ein alter weißer Mann redet, hört sowieso keiner zu", sagt Hedegard nachdenklich. Deshalb fährt er immer zweigleisig: Erst zeigt er Statistiken, die den Sinn des Sicherheitsgurtes klarmachen sollen; dann folgen Schock-Videos, in denen nicht angeschnallte Fahrer aus ihrem Wagen geschleudert und von anderen Autos überrollt werden. "In vielen Fällen hat die Fahrgastzelle den Crash überstanden", sagt der Gurtbefürworter. "Die Fahrer sind nur deshalb tot, weil sie unangeschnallt waren."

Hedegard hat viele solcher Beispiele gesammelt. Er selbst leitet die Anschnall-Kampagne von einem Kinderkrankenhaus aus, wobei die Stelle zum größten Teil aus staatlichen Mitteln finanziert wird. Paradoxerweise. Schließlich hat sich das Landesparlament mehrfach gegen eine Gurtpflicht ausgesprochen, zuletzt im Jahr 2009, als einige Demokraten einen Gesetzesvorstoß wagten. "Vielen denken, wir seien extrem konservativ", sagt Hedegard, "aber das stimmt nicht." Tatsächlich dürfen auch in New Hampshire gleichgeschlechtliche Paare heiraten, in Kneipen herrscht striktes Rauchverbot, und schon bald könnte sogar Marihuana legalisiert werden. "Nur beim Autofahren hört die Logik auf", sagt Hedegard. "Es ist ein bisschen wie in Deutschland mit dem Tempolimit auf der Autobahn."

Eine Gurtpflicht passt nicht zu Freiheit und Selbstbestimmung

Um herauszufinden, wie es um die automobile Freiheitsliebe bestellt ist, werden Gurtmuffel und -träger regelmäßig von Freiwilligen gezählt. Sie stellen sich an den Straßenrand und führen eine Strichliste, aus der die Anschnallquote hochgerechnet wird. Das Ergebnis: In New Hampshire nutzen nur wenig mehr als 70 Prozent der Verkehrsteilnehmer ihren Gurt; im restlichen Land sind es 87 Prozent. Auch das ist im internationalen Vergleich ein bescheidener Wert. In Deutschland liegt die Anschnallquote bei 98 Prozent; in den USA dagegen werden sogar Crashtests auch mit nicht angegurteten Dummys durchgeführt.

Es erinnert an die erregte Debatte in Deutschland

Selbst dort, wo es gesetzliche Vorschriften gibt - also in allen anderen 49 Bundesstaaten -, wird die Umsetzung eher lax gehandhabt. So unterscheidet man in den USA zwischen zwei Arten von Gesetzen: Primäre Gurtgesetze erlauben es der Polizei, Autofahrer allein wegen eines Anschnall-Verstoßes anzuhalten - aktuell ist das in 34 Bundesstaaten der Fall. Im Rest des Landes gelten lediglich sekundäre Gurtgesetze: Dort darf die Polizei nur dann einen Strafzettel ausstellen, wenn Verkehrsteilnehmer noch einen weiteren Verstoß begangen haben. Nicht angeschnallt sein, reicht nicht für ein Bußgeld.

Freiheit, Selbstbestimmung, Sicherheit: In New Hampshire wird mit diesen Schlagworten leidenschaftlich jongliert. Bei der letzten Abstimmung vor sechs Jahren demonstrierten sowohl Befürworter als auch Gegner im Parlament. Ein Feuerwehrmann flehte die Abgeordneten an, endlich etwas gegen das sinnlose Sterben auf den Straßen zu unternehmen. Ein Restaurantbesitzer orakelte, der Staat mische sich immer mehr ein - bald würden auch noch seine Cheeseburger verboten. Und ein IT-Experte erschien in Tarnkleidung, um gegen den "fortschreitenden Kommunismus" zu wettern. Das Ganze erinnert an die erregte Debatte in Deutschland vor Einführung der Gurtpflicht. So titelte Der Spiegel 1975 mit der Schlagzeile: "Gefesselt ans Auto".

Eine Gurtpflicht würde viel Geld sparen

Der amerikanische Automobilklub AAA spricht sich seit Langem für Gesetzesverschärfungen aus. "Nicht angeschnallte Verkehrsteilnehmer gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch andere, indem sie zu Geschossen werden", warnt AAA-Sprecher Patrick Moody. 95 Menschen sind im vergangenen Jahr auf New Hampshires Straßen tödlich verunglückt. Aktivisten der Kampagne "Buckle Up, New Hampshire" (Schnall dich an!) glauben, dass sich diese Zahl drastisch reduzieren ließe: Mit einer Gurtpflicht könne man jedes Jahr neun Menschenleben retten, 181 Schwerverletzte verhindern und 39 Millionen Dollar einsparen. Würden sich alle immer anschnallen, könne man weitere 24 Menschen vor dem Tod bewahren.

Überraschend ist dagegen der Blick in die offizielle Unfallstatistik. Demnach sterben auf New Hampshires Straßen - gemessen an der Bevölkerungsgröße - sogar weniger Menschen als in anderen amerikanischen Bundesstaaten. So kam New Hampshire im Jahre 2013 auf 10,2 Verkehrstote pro 100 000 Einwohner. Im landesweiten Schnitt waren es etwas mehr, nämlich 10,35. Der genaue Grund dafür ist nicht bekannt. Offenbar spielen aber auch andere Faktoren wie Wetter, Straßenzustand, Verkehrsdichte doch eine größte Rolle als vermutet.

Dennoch: Die Gurt-Befürworter wollen sich auch weiterhin nicht geschlagen geben. "Nächstes Jahr starten wir einen neuen Versuch für eine Gesetzes-Initiative", verrät Aktivist Howard Hedegard. Optimistisch stimmt ihn die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren viele junge, gut ausgebildete Neubürger nach New Hampshire gezogen sind. Dass diese von einem Motto wie "Lebe frei oder stirb" eher wenig halten, wissen auch Freiheitsbefürworter wie Debbie Morrill, die sich, siehe oben, noch nie angeschnallt hat. "Wenn das meine Enkel wüssten, müsste ich mir erst mal einen Vortrag anhören. Da halte ich lieber meine Klappe."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: