Süddeutsche Zeitung

Verkehrssicherheit:Augen auf die Straße statt aufs Handy

  • Ablenkung ist ein großes Problem auf deutschen Straßen. Sie ist inzwischen für mehr Verkehrstote verantwortlich als Alkohol.
  • Experten fürchten, dass der rückläufige Trend bei der Zahl der Verkehrstoten durch das Problem aufgehalten oder umgekehrt werden könnte.
  • Sie fordern Gegenmaßnahmen - und nehmen dabei Gesetzgeber, Hersteller und Fahrschulen in die Pflicht.

Von Marco Völklein

Polizist Thomas Hennemann findet das Handy zwischen den Beinen des Fahrers. "Hallo" steht da noch im Display - offenbar hatte der junge Mann gerade begonnen, eine SMS zu tippen. Doch weiter kam er nicht. In einer Kurve driftet sein Wagen ab, mit Tempo 70 kracht er in einen entgegenkommenden Lkw. So rekonstruiert der Polizist aus Münster später den Unfall. Hätte der Fahrer sich nicht dem Gerät gewidmet, sondern der Straße vor sich - er könnte vielleicht noch leben.

Nach einer Studie des Versicherers Allianz aus dem Jahr 2016 ist etwa jeder zehnte Verkehrstote auf Ablenkung zurückzuführen. Das waren im Jahr 2016 bei 3206 im Straßenverkehr Getöteten etwa 320 Menschenleben. Zum Vergleich: Die Zahl der wegen Alkohol am Steuer Getöteten lag laut Deutschem Verkehrssicherheitsrat (DVR) bei 225, etwa 1100 Menschen starben aufgrund von überhöhtem oder unangepasstem Tempo. "Die Gefahren durch Ablenkung werden völlig unterschätzt", sagt Stefan Heimlich, Vorsitzender des Auto Club Europa (ACE).

3170 Verkehrstote

erwartet das Statistische Bundesamt für 2017. Das wäre der niedrigste Stand seit 1949. Mit mehr als 21 300 Toten war 1970 der Höchststand erreicht worden. Bei den Verletzten rechnet das Amt mit einem Minus um zwei Prozent auf 390 000. Die Zahl der Unfälle dürfte leicht auf 2,6 Millionen steigen.

Automobilklubs, Vereinigungen wie der DVR und staatliche Institutionen wie das Bundesverkehrsministerium - sie alle versuchen, auf das Problem hinzuweisen. Seit Herbst läuft ein Kinospot der Aktion "Runter vom Gas - Finger vom Handy", in Bayern engagiert sich der Fußballer Joshua Kimmich in einer Verkehrssicherheitskampagne, bundesweit der Rapper Kay One. Zudem legen sich Forscher vielerorts auf die Lauer, um das Verhalten von Verkehrsteilnehmern zu erfassen.

So beobachtete der ADAC bei mehr als 7300 Radfahrern, dass etwa jeder zehnte sich per Kopfhörer beschallen ließ. Eine Feldstudie des ACE mit 140 000 beobachteten Fußgängern ergab, dass etwa jeder vierte Jugendliche beim Überqueren der Straße aufs Smartphone starrte, bei Erwachsenen war es etwa jeder sechste bis siebte. Künftig könnten das mehr werden, warnt Siegfried Brockmann vom Versichererverband GDV: "Die Digital Natives", also die Gruppe der jungen Leute, die quasi mit dem Smartphone in der Hand geboren wurden, "die kommen ja jetzt erst."

"Routine ist der größte Feind der Achtsamkeit"

In einer repräsentativen Umfrage der Dekra gaben 55 Prozent der Autofahrer an, ihr Smartphone zumindest hin und wieder am Steuer zu nutzen. Weil für viele Autofahren reine Routine ist, suchten sie gewissermaßen die Ablenkung, sagt ADAC-Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino. "Doch Routine ist der größte Feind der Achtsamkeit." Passiere dann doch etwas Unvorhergesehenes, könne der Fahrer mitunter nicht mehr rechtzeitig reagieren.

Wer etwa bei Tempo 50 für drei Sekunden aufs Handy schaut, absolviert fast 42 Meter Blindflug, rechnet Dekra-Unfallforscher Markus Egelhaaf vor. "Welcher Autofahrer würde während der Fahrt freiwillig für drei Sekunden die Augen schließen?" Auf einem Übungsplatz ließ er Testfahrer einen Parcours mit Tempo 30 absolvieren und nebenbei Handynachrichten tippen. "Viele Probanden reagierten auf einen Ball, der plötzlich über die Straße rollte, gar nicht", berichtet Egelhaaf. Mehrere übersahen ein rotes Ampelsignal.

Er fürchtet, der seit Jahren rückläufige Trend bei der Zahl der Verkehrstoten könnte durch das Problem Ablenkung aufgehalten oder umgekehrt werden. Erst im Herbst wurde der Handy-Paragraf in der Straßenverkehrsordnung verschärft und auf elektronische Geräte generell erweitert. Die Geldbuße stieg auf 100 Euro und einen Punkt, bei Sachbeschädigung muss man mit 200 Euro Geldbuße, zwei Punkten und einem Monat Fahrverbot rechnen. Zudem kontrolliert beispielsweise die bayerische Polizei nach eigenen Angaben häufiger. Doch reicht das? "Wir brauchen ein ganz neues Problembewusstsein", sagt Egelhaaf. Das Herumspielen am Smartphone im Auto müsse "ähnlich geächtet werden wie Alkohol am Steuer".

Aber das Problem sei nicht auf Handys oder Tablets beschränkt, sagt Berthold Färber von der Bundeswehr-Uni München. Auch Reklametafeln am Straßenrand oder überfrachtete, amtliche Wegweiser lenkten Fahrer ab oder überforderten sie. Mehr als sieben Hinweise pro Wegweiser könne man kaum verarbeiten, sagt der Verkehrswissenschaftler, vielerorts seien aber zehn, zwölf oder noch mehr Ziele angegeben. "Jeder Bürgermeister will, dass sein Ort aufgeführt wird." Oft könnten auch Piktogramme helfen, die Komplexität zu reduzieren. Studien hätten zudem gezeigt, dass allein schon das Führen eines Telefonats den Fahrer vom Verkehrsgeschehen ablenkt, ergänzt Brockmann - selbst wenn er, wie vom Gesetzgeber erlaubt, eine Freisprecheinrichtung nutzt.

Vorschläge, wie Ablenkung reduziert werden kann

Hinzu kommt, dass in den Autos immer mehr Infotainment verbaut wird. Neben der Sendersuche im Radio und der Zieleingabe am Navigationsgerät können viele Autofahrer die Fahrwerksabstimmung bedienen, den Sound steuern oder eine Rückenmassage zuschalten. "Auch das lenkt ab", sagt Färber. Hinzu kommt: Mit ihrer Werbung, die immer mehr auf Vernetzung (Fachbegriff: "Connectivity") setze, "suggeriert die Autoindustrie, dass die Smartphone-Nutzung im Auto das Normalste auf der Welt ist", sagt Egelhaaf. Sinnvoll wäre daher, findet Färber, wenn zumindest ein Teil der Systeme ab einer Geschwindigkeit von zum Beispiel zehn Stundenkilometern nicht mehr bedient werden könnten - und der Gesetzgeber dies auch vorschreibe. ADAC-Mann Chiellino fordert, das Thema intensiv in der Fahrschule zu behandeln und appelliert an die "Vorbildfunktion der Eltern".

Brockmann setzt darauf, dass die Sprachsteuerung der Infotainment-Anlagen besser wird, Dekra-Mann Egelhaaf fordert zudem haptische oder akustische Rückmeldungen auch bei Systemen, die etwa per Touchscreen gesteuert werden. "Früher ließ sich das Autoradio ja nahezu blind bedienen." Und Färber schlägt eine Art "Paketlösung" vor: Bei der könnten die Infotainment-Systeme im Auto nur bedient werden, wenn gleichzeitig auch diverse Sicherheitsassistenten aktiv sind - beispielsweise Notbrems-, Abstands- und Spurhalteassistent. "Es kommt ja auch keiner auf die Idee, ein 200-kW-Auto nur mit Trommelbremsen auszustatten."

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Quelle:
SZ vom 16.12.2017/harl
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