Verkehrssicherheit: Assistenzsysteme:Im Zweifel lieber faul als beschützt

Viele Assistenzsysteme verbessern nachweislich die Verkehrssicherheit. Doch die meisten Autokäufer entscheiden sich lieber für mehr Komfort. Dabei wären lebensrettende Technologien auf Grund der steigenden Zahl der Verkehrsopfer mehr als angebracht.

Joachim Becker

Die Zahl der Verkehrsopfer steigt weiter. Weltweit kommen jedes Jahr 1,3 Millionen Menschen im Straßenverkehr ums Leben, rund 50 Millionen werden verletzt. Bis 2020 könnte die Zahl der Verkehrstoten jährlich 1,9 Millionen erreichen - eine Steigerung um fast 50 Prozent.

Ins Lenkrad gegriffen

Ins Lenkrad gegriffen: Ein Mercedes-Assistenzsystem im Einsatz. 

(Foto: Mercedes)

Angesichts der erschreckenden Prognosen haben die Vereinten Nationen im Mai die Dekade der Verkehrssicherheit ausgerufen. Zum Aktionsplan gehört die weltweite Ausstattung von Autos mit dem Elektronischen Stabilitätsprogramm (ESP).

In Europa wird ESP im nächsten Jahr Pflicht für alle Neuwagen. Während der Fahrer mindestens eine Sekunde braucht, bis er spürt, dass sein Auto instabil wird, greift die Elektronik schon nach 50 Millisekunden ein. Der Schutzengel ist also viel schneller als jeder Mensch, dadurch verringern sich die gefährlichen Schleuderunfälle in der Praxis um 40 Prozent.

Während die ESP-Sensorik das Fahrzeug kontrolliert, rückt künftig die Umfelderkennung stärker in den Fokus. Von 2013 an wird die unabhängige Prüforganisation EuroNCAP der aktiven Sicherheit noch mehr Aufmerksamkeit widmen. Ohne (radarbasierte) Notbremssysteme wird es dann keine Fünf-Sterne-Bewertung mehr geben - ein starker Anreiz für alle Fahrzeughersteller, zusätzliche unfallvermeidende Systeme einzubauen.

Denn in die Wertung gehen immer die preisgünstigsten Modellvarianten mit Serienausstattung ein. Bisher werben die Automarken mit Höchstnoten im Crashtest, als wären diese eine Lebensversicherung. Die Laborversuche finden allerdings bei 64 km/h statt.

Geringere Geschwindigkeit lindert Folgen

Gerade auf der Autobahn ereignen sich folgenschwere Auffahrunfälle aber mit höherem Tempo. Notbremssysteme reduzieren die Geschwindigkeit, selbst wenn die Kollision unvermeidbar ist - und lindern dadurch die Folgen für alle Unfallbeteiligten.

Mehr aktive Sicherheit für alle fordern die Experten unisono. Doch die Lebensretter sind bislang Ladenhüter. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) hat in einer Studie ermittelt, dass nur jeder zweite Autofahrer ESP kennt. Wenn die Kaufentscheidung konkret ansteht, entscheiden sich die meisten gegen zusätzliche Sicherheit und für mehr Komfort.

Das umfangreiche Fahrerassistenzpaket im VW Passat zum Preis von 2165 Euro wurde 2010 beispielsweise nur in zwei Prozent der Neuwagen eingesetzt. Der komfortable Einparkassistent kam dagegen auf eine Einbaurate von 23 Prozent.

"Was bringt es, technologisch Machbares zu diskutieren, wenn auf der Prioritätenliste des Verbrauchers nachweislich hilfreiche Systeme abgeschlagen im hinteren Mittelfeld liegen", heißt es entsprechend frustriert im Pressetext zum 10. Deutschen Verkehrsexpertentag, der vor wenigen Wochen in Köln stattfand.

Schutz fängt schon vor der Motorhaube an

Das Fazit der Experten: "Alles, was nicht serienmäßig an Sicherheitssystemen verbaut wird, bleibt im wahrsten Sinne außen vor." Das erste ABS war 1978 verfügbar. Doch erst 2004 hatten 90 Prozent der Neufahrzeuge das Antiblockiersystem an Bord.

Selbst offensichtlich lebensrettende Technologien brauchen bisher viel zu lange, um auch in Kleinwagen Einzug zu halten. Solche Autos profitieren von aktiven Sicherheitssystemen aber besonders: Beim Zusammenstoß mit größeren Fahrzeugen sind sie aufgrund ihrer geringen Masse benachteiligt.

Für die Kleinen mit der kurzen Knautschzone ist es besonders sinnvoll, die Aufprallenergie der Unfallbeteiligten vor der Kollision zu reduzieren: Aktiver Insassen- und Partnerschutz fängt schon vor der Motorhaube an.

Mercedes, Volvo und Ford gehen schon heute in der aktiven Sicherheit voran: Volvo rüstet alle Modelle serienmäßig mit "City Safety" aus. Der Notbremsassistent kann auch Personen erkennen. Ein integrierter Computer-Chip vergleicht die Kamerabilder mit gespeicherten Silhouetten.

Allerdings ist die kleine Linse im Fuß des Innenspiegels längst nicht so lichtstark wie das menschliche Auge. Bei Regen sinkt die Erkennungsrate deutlich, in der Dunkelheit geht sie gegen null. Ähnliche Probleme hat "Active City Stop" im neuen Ford Focus für 350 Euro.

Der Infrarot-Laser-Sensor (Lidar) neben dem Innenspiegel streikt, wenn die Frontscheibe verschmutzt, vereist oder beschlagen ist. Das größte Manko ist allerdings, dass beide Assistenzsysteme nur bis 30 km/h funktionieren. Die meisten lebensgefährlichen Unfälle finden jedoch bei höherem Tempo statt.

Eine Offensive für den Tempobereich von 30 bis 250 km/h hat jetzt Mercedes angekündigt. In der neuen Generation der B-Klasse wird erstmals eine radargestützte Kollisionswarnung mit Bremsassistenten Serienausstattung (die SZ berichtete). Das System erkennt einen zu geringen Abstand zu Vorausfahrenden, warnt den Fahrer und spannt die Bremsen vor.

Vollbremsung bei Bedarf

Tritt der Fahrer auf das Pedal, wird bei Bedarf eine Vollbremsung eingeleitet. Zwölf Prozent aller schweren Pkw-Unfälle ließen sich verhindern, wenn alle Autos mit solchen Notbremssystemen ausgestattet wären. Zu diesem Schluss kommt die Unfallforschung der Versicherer (UDV). "Damit versprechen diese Fahrerassistenzsysteme nach ESP das höchste Unfallvermeidungspotential", sagt Siegfried Brockmann, Leiter der UDV in Berlin. Bis 2015 erwartet der Zulieferer Bosch den Einbau der Radarsysteme in 15 Prozent aller Neuwagen.

Dass auch teure elektronische Knautschzonen den Fahrer (noch) nicht ersetzen können, zeigt ein aktueller ADAC-Vergleichstest. Der Verkehrsclub hatte sechs Modelle vorwiegend aus der oberen Mittelklasse verglichen. Dabei wurde nicht nur überprüft, wie stark die Aufprallgeschwindigkeit durch die Notbremssysteme reduziert wird.

Auch die Deutlichkeit der Warnstufen ging in die Bewertung ein. Der Volvo V60 gewann den Vergleich und erhielt als einziger eine sehr gute Beurteilung. Die nachfolgenden Plätze belegten Mercedes CLS und Audi A7.

Der Mercedes bremst zwar wie der Volvo auch vor unbewegten Objekten, kann oder will Kollisionen aber (noch) nicht komplett vermeiden. "Wir sind auf der Haftungsseite noch sehr vorsichtig", sagt Bernd Bohr, Vorsitzender des Bosch Unternehmensbereichs Kraftfahrzeugtechnik, "deshalb behält der Fahrer auch bei Notbremssystemen stets das Kommando."

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