Verkehrspsychologie:Angst, der ständige Beifahrer

Panikattacken am Steuer

Schätzungen zufolge leiden eine Million Autofahrer in Deutschland unter Panikattacken am Steuer.

(Foto: Illustration: SZ / Stefan Dimitrov)

Viele Autofahrer leiden unter Panikattacken am Steuer. Manchmal so heftig, dass sie sich kaum noch ans Lenkrad trauen. Dabei können Psychologen auf recht einfache Art helfen.

Von Thomas Harloff

Eine Fahrt zum Kunden, die Strecke führt über die Autobahn. Eigentlich Routine für Klaus Gerlach (Name von der Redaktion geändert). Doch diesmal verläuft alles anders. "Erst fing mein linkes Handgelenk an zu kribbeln, als ob es einschlafen würde", sagt er. Kurz danach folgt das Bein. Gerlach wird immer unruhiger, er hält an einer Raststätte. "Ich dachte: Vielleicht bin ich unterzuckert." Er isst etwas und fährt weiter. Doch es dauert nicht lange, bis das Kribbeln wieder anfängt. Dann wird auch sein Atem schneller, er hyperventiliert. Fürchtet, in Ohnmacht zu fallen. So kann er nicht weiterfahren. "Ich hielt auf dem Standstreifen an und rief einen Krankenwagen," erinnert sich Gerlach.

Bei verschiedenen Ärzten lässt sich der 56-Jährige danach durchchecken, das Herz-Kreislauf-System, auch die Augen. Keine Auffälligkeiten. Als er das nächste Mal auf eine Autobahn fährt, kehren die Erscheinungen zurück. Genau wie bei der darauffolgenden Fahrt. Und der nächsten. Irgendwann meidet er Autobahnen, fährt nur noch in der Stadt und auf Landstraßen oder lässt sich von seiner Ehefrau oder einem Freund mitnehmen. Er schränkt sich und seine Mobilität ein, verzichtet auf ein Stück Lebensqualität. "Ich habe gemerkt: Das nimmt mir enorm viel. Da wusste ich, dass ich etwas tun muss, und habe professionelle Hilfe in Anspruch genommen."

Etwa eine Million Betroffene

So wie Klaus Gerlach geht es inzwischen vielen am Steuer. Darüber, wie viele genau unter solchen Panikattacken leiden, gehen die Schätzungen allerdings auseinander. Die Dunkelziffer ist hoch. Der ADAC geht von etwa einer Million Betroffene aus. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Menschen, die dem Autofahren grundsätzlich ängstlich begegnen. Auch Gerlach ist ein routinierter Fahrer. "Das sind Leute, die sind früher so gerne Auto gefahren wie Sie und ich. Die auch gerne flott unterwegs waren", sagt Alexandra Bärike, die Autofahrer mit Panikattacken therapiert. Fast die Hälfte sind Männer.

Die Kölnerin ist ausgebildete Fahrlehrerin und hat zudem Studiengänge in Philosophie und Psychologie abgeschlossen. Seit etwa elf Jahren betreut sie Menschen psychologisch, die sich nicht mehr trauen, zu überholen, durch Tunnel oder über Autobahnbrücken zu fahren. Die Autobahnen und Schnellstraßen meiden, weil sie fürchten, dass sie auf der nächsten Fahrt wieder die Angst heimsuchen könnte. Die über Monate oder Jahre alle möglichen Ärzte aufgesucht haben, in der Hoffnung, es gebe einen Befund über ein körperliches Problem, das behandelt werden kann. Oder zumindest ein Medikament, das Abhilfe schafft. Doch nur selten hat die Schulmedizin eine Lösung für die Angst vor der Angst parat.

Nicht der Verkehr löst die Angst aus

Was die Therapie für Psychologen schwierig macht: Die Angst erwächst meist nicht aus einem traumatischen Erlebnis im Straßenverkehr - einer gefährlichen Verkehrssituation, einem Lastwagen, der plötzlich ausschert, oder einem Drängler, der unvermittelt im Rückspiegel auftaucht. "Die wirklichen Ursachen liegen in starken privaten oder beruflichen, hin und wieder auch gekoppelten, Stresssituationen. Manchmal auch in einer Vorstufe des Burn-out", sagt Bärike. Wenn sich diese Probleme und der Stress beim Fahren addieren, könne das zu einer Panikattacke am Steuer führen.

Wer sich an Alexandra Bärike wendet, hat solche Situationen schon öfter durchgemacht. Manch einer lebt seit Wochen mit seinen Angstzuständen, andere quälen sich seit vielen Jahren damit. Um die Blockade zu lösen, therapiert Bärike stufenweise - auch im Fall Gerlach. Es beginnt mit einem Vorgespräch. "Ich habe mich zu ihr ins Auto gesetzt", sagt er. "Erst ist sie gefahren, und ich saß daneben. Mein erster Eindruck: Meine Güte, die Frau textet dich zu!"

"Durch das Erzählen lockert sich alles"

Doch auch Gerlach redet viel - und realisiert, dass sich der Krampf löst. "Durch dieses Erzählen lockerte sich alles. Da merkte ich: Medizinisch gesehen kann nichts passieren. Ich kann nicht in Ohnmacht fallen oder einen Unfall bauen." Er baut Selbstvertrauen auf, legt seine Nervosität ab. In der nächsten Fahrstunde tauschen beide die Plätze, Gerlach fährt - wie selbstverständlich auch über die Autobahn. Beim nächsten Mal sitzt er alleine im Auto, Bärike fährt hinterher. Auch diese Fahrt verläuft problemlos.

Mit ihrem Konfrontationstraining will Bärike erreichen, dass die Betroffenen die Verkehrssituationen, die sie zuvor gemieden haben, mit einem aushaltbaren Stresslevel meistern können - und in der Lage sind, sie zu entschärfen, sollte der Stress doch einmal überhandnehmen, wenn etwa ein Autofahrer von hinten per Lichthupe drängelt. "Dafür sollten sie verstehen, warum ihr Körper eine starke Stressreaktion zeigt und wie sie die Adrenalinausschüttung selbst wieder regulieren können", sagt Bärike.

Sie zeigt ihren Klienten, wie sie sie nennt, Kurzentspannungsverfahren, hilft ihnen, destruktive in unterstützende Gedanken zu verändern. Das baut Selbstbewusstsein auf und Schamgefühle ab. Und die Therapeutin schützt die Hilfesuchenden vor zu hohen Erwartungen. Es gehe nicht darum, nie wieder Ängste oder Panik zu haben, sondern sie mit regelmäßiger Übung in den Griff zu bekommen.

Schwierige Rahmenbedingungen in Deutschland

Dass hierzulande viele Autofahrer von Angstzuständen am Steuer geplagt sind, "hängt auch damit zusammen, dass wir das einzige Land ohne Geschwindigkeitsbeschränkung sind und eine Kultur der permanenten Geschwindigkeitsübertretung haben", sagt die Psychologin. "Unser Adrenalinsystem springt auf deutschen Autobahnen ganz anders an als in Dänemark oder der Schweiz."

Obwohl die Rahmenbedingungen - aus psychologischer Sicht - nicht perfekt sind, fährt Klaus Gerlach inzwischen wieder regelmäßig auf der Autobahn. Das sei nach den damaligen Fahrstunden schnell wieder möglich gewesen, sagt er. Trotzdem meldet er sich immer mal wieder bei Alexandra Bärike, gerade nach Phasen, in denen er nicht oft auf Schnellstraßen gefahren ist. "Ich habe sie vor etwa einem Jahr kontaktiert, weil ich eine Auffrischung haben wollte. Ich habe sofort gemerkt, dass die Selbstsicherheit wieder auftauchte. Heute habe ich keine Probleme mehr."

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