Verkehrsforschung:Krieg dem Unfall

Ein chinesischer Forscher macht die Straßen seiner Großstadt sicherer: Er betrachtet Verkehrsunfälle als Krankheit und identifiziert mit epidemiologischen Methoden gefährliche Fahrer.

Richard Stone

Als er nach einem Thema für seine Abschlussarbeit suchte, traf Jin Huiqing eine schicksalshafte Entscheidung. Er hatte Mitte der 1980er Jahre Medizin an der Medizinischen Hochschule der Provinz Anhui in Hefei studiert und dort in grausamen Details gesehen, was bei Verkehrsunfällen mit den Beteiligten passiert.

Aufzuklären, warum manche Autofahrer öfter Unfälle verursachen als andere, schien ihm von großem Wert für die Gesellschaft zu sein. Doch sein Professor war dagegen: "Er sagte, womöglich bekäme ich so keinen Abschluss. Niemand hat mich unterstützt", sagt Jin.

Doch sein Professor irrte: Jin wurde in China zum Pionier eines neuen Forschungsfeldes - der Epidemiologie von Verkehrsunfällen. Er arbeitet nun in Jinan, wo dank seiner Arbeit das Global Compact-Programm der Vereinten Nationen vor fünf Jahren ein 70-Millionen-Dollar-Pilotprojekt für Verkehrssicherheit gestartet hat.

Bald ist eine Bewertung des Vorhabens fällig, und die Statistik spricht für die Ideen des Vordenkers Jin. Auf den Straßen seiner Stadt sinken Unfallhäufigkeit und Todesopferzahlen stetig.

"Jins Ideen hatten einen starken Effekt auf Jinan", sagt Frederick Dubee, der früher für Porsche den Standort Kanada leitete und heute an der Universität Shanghai arbeitet. Experten fordern bereits, das Sicherheitsprogramm auf andere Städte auszudehnen.

Dieser Weg war für Jin nicht unbedingt vorgezeichnet: Während der Kulturrevolution wurde er auf das Land verbannt. Dann begann der heute 54-jährige doch zu studieren. Bald interessierte er sich für nicht-ansteckende Leiden.

Verkehrsunfälle als Krankheit sehen

"Ich dachte: Warum soll ich Verkehrsunfälle nicht als Krankheit auffassen?", erzählt er aus der Zeit. Schließlich sind sie die Ursache von vielen vermeidbaren Todesfällen. Auf den Straßen der Welt sterben jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen, 50 Millionen werden verletzt. Und China hat mehr Unfälle als jedes andere Land.

Doch zu jener Zeit, sagt Jin, waren die Sicherheitsorgane seines Landes "nicht bereit, Daten über Verkehrsunfälle herauszugeben". Wissenschaftler bemühten sich auch nicht darum. "Niemand kümmerte sich um die menschliche Seite der Unfälle."

Er blieb hartnäckig und freundete sich mit einigen hohen Polizeioffizieren an. So kam er an die Daten von gut 17.000 Autofahrern. Sechs bis acht Prozent von ihnen waren Wiederholungstäter, die zusammen etwa 40 Prozent der Unfälle mit mehr als einem Auto verursacht hatten.

Diejenigen unter ihnen, die in fünf Jahren dreimal oder öfter einen Unfall verschuldet hatten, besaßen im Vergleich zum Rest signifikant erniedrigte Werte der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin. In einem systematischen Vergleich zeigte sich, dass sie bei etlichen Tests schlechter abschnitten als normale Autofahrer. Ihre Raumwahrnehmung und Nachtsicht waren eingeschränkt, sie gingen mehr Risiken ein.

Auf der Basis dieser Daten hat Jin eine Strategie entwickelt, die er "Drei Linien der Verteidigung" nennt. Erstens stellen sich Lastwagenfahrer und andere professionelle Wagenlenker schriftlichen Tests und Untersuchungen ihrer Sehkraft und geistigen Aufmerksamkeit.

Zweitens nutzt Jins Programm Simulatoren, um Fahrer zu trainieren und schlechte Gewohnheiten zu korrigieren. Drittens überwachen Kameras gefährliche Kreuzungen. "Die ,Drei Linien der Verteidigung' sind ein wichtiges Konzept. Es geht die Vorbeugung vor Unfällen ganzheitlich an", sagt Frederick Dubee.

Unfälle auch genetisch bedingt?

Jins dritte Linie nimmt in der Kommandozentrale der Verkehrsüberwachung eine ganze Wand des doppelstöckigen Raums ein. Bildschirme geben Videoaufnahmen von Kreuzungen wieder, auf einer Karte der Verkehrsadern zeigen Lämpchen, wie der Verkehr fließt. Die Polizisten der Stadt tragen GPS-Sender, so dass schnell der nächste Streifenbeamte zu einem Unfall beordert werden kann.

Jinan hat womöglich die sichersten Straßen Chinas. Obwohl die Zahl privater Autos zwischen 2006 und 2010 von 929.000 auf 1,2 Millionen gestiegen ist, hat die Zahl der Verkehrstoten von 343 auf 263 pro Jahr abgenommen. Immer noch gibt es täglich mehr als 100 Unfälle, aber seit fünf Jahren ist bei keinem davon mehr als eine Person gestorben - keine andere Stadt Chinas kann da mithalten, sagt Lu Duhe, Leiter der städtischen Verkehrspolizei. Jins Methoden hätten Jinan sicherer gemacht.

Der nächste Schritt des Unfall-Epidemiologen ist wieder ein Wagnis: Er sucht nach genetischen Faktoren, die etwas mit unfallträchtigem Fahren zu tun haben. Eine einmalige Datenbasis dafür existiert bereits: Tausende von Blutproben und psychologischen Profilen von sicheren Autolenkern sowie Unfallverursachern.

In einer ersten Studie will er bereits Hinweise auf drei Gene gefunden haben, die mit gefährlichem Fahren zu tun haben. Diese vorläufigen Ergebnisse seien "sehr interessant", sagt Yang Huanming von Chinas Genomischen Institut in Shenzhen.

Verhaltensweisen auf das Erbgut zurückzuführen, sei eine Herausforderung. Jin ist da optimistischer: Genetische Studien "werden das Rätsel lösen, warum manche Fahrer zu Unfällen neigen", prophezeit er.

Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe von Science erschienen, dem internationalen Wissenschaftsmagazin, herausgegeben von der AAAS. Weitere Informationen: www.sciencemag.org, www.aaas.org. Deutsche Bearbeitung: cris

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