Süddeutsche Zeitung

Verkehrssicherheit:Geht's auch langsamer?

Mehrere Städte würden gerne Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit testen. Doch es gibt Widerstände.

Von Steve Przybilla

Ein Mann im dicken Wintermantel steht vor einer Straße, auf die ein Tempo-30-Schild gemalt ist. So beginnt ein Video, das der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn auf Facebook hochgeladen hat. Der Mann im Mantel ist er selbst; das Video richtet sich an den "lieben Verkehrsminister Andreas Scheuer" in Berlin. So niedrig die Temperaturen am Drehtag offenbar waren, so frostig fielen kurz darauf zahlreiche Kommentare aus, die Horn mit seinem Video generierte. Ein Facebook-Nutzer moniert, der parteilose OB sei ein "trojanisches Pferd" und lasse nun "seine grüne Hose runter". Andere indes finden seine Idee "grandios" und "mutig".

Horn fordert eine Regelgeschwindigkeit von 30 Kilometer pro Stunde in Freiburg. Einfach so einführen kann er sie nicht; zuerst müsste das Bundesverkehrsministerium zustimmen. Erlaubt sind 30er-Zonen laut Straßenverkehrsordnung nämlich nur dann, wenn ein konkreter Anlass für eine Absenkung des zugelassenen Höchsttempos vorliegt, zum Beispiel, um vor Bildungseinrichtungen Schülerinnen und Schüler zu schützen, in Wohngebieten oder auch an Unfallschwerpunkten. Um das Vorhaben dennoch umzusetzen, hat Horn beim Verkehrsministerium in Berlin einen Modellversuch beantragt - nicht nur per Facebook, sondern zuvor auch in einem offiziellen Brief. Eine Antwort steht noch aus.

Momentan herrscht Wirrwarr

Am jetzigen Zustand stört den Freiburger OB vor allem der Wirrwarr. In seinem Video erklärt er, dass er an einer Straße stehe, an der es vier verschiedene Temporegelungen im Umkreis von 200 Metern gebe: Tempo 30 nur in den Nachtstunden, Tempo 30 generell, Tempo 30 vor der Schule, Tempo 30 temporär befristet. "Da blickt keiner mehr durch", sagt Horn und wünscht sich stattdessen eine Vereinheitlichung. Ein grundsätzlich niedrigeres Regeltempo bringe nicht nur Vorteile für Fußgänger und Radfahrer, sondern auch Klarheit für alle, die im Auto unterwegs sind. Angenehmer Nebeneffekt: "Wir könnten uns Hunderte, wenn nicht Tausende Verkehrsschilder sparen", sagt Horn.

Der 36-Jährige, der 2018 zum Oberbürgermeister in der etwa 230 000 Einwohner zählenden Stadt gewählt wurde, hat in seiner kurzen Amtszeit schon viel erlebt. Direkt am Wahlabend verpasste ihm ein Mann ein blaues Auge; später erhielt er Morddrohungen, nachdem er dazu aufgerufen hatte, Geflüchtete nicht zu pauschalisieren. Und jetzt das Tempolimit. "Das Thema emotionalisiert", räumt Horn ein.

"Wir wollen eine lebenswerte Stadt", sagt der OB

Noch nie habe er so viele kritische Kommentare bei Facebook erhalten wie zu diesem Video, sagt der Politiker. Um gleich nachzuschieben: "Bei Instagram waren die Reaktionen hauptsächlich positiv." Ihm gehe es nicht um die Weltrevolution, stellt Horn klar. "Aber wir wollen keine Autostadt, sondern eine lebenswerte Stadt."

Der Modellversuch soll zwei Jahre dauern und wissenschaftlich begleitet werden: Wie verändert Tempo 30 den Verkehrsfluss? Wird die Luft besser? Gibt es weniger Lärm? Steigen vielleicht mehr Personen auf Busse und Bahnen um? Während der grüne Verkehrsminister in Baden-Württemberg die Idee öffentlich unterstützt, ist aus Berlin bislang keine Reaktion gekommen. "Wir warten nach wie vor auf die schriftliche Rückmeldung", drückt es Horn diplomatisch aus. Unter der Oberfläche ist er sichtbar frustriert.

Dabei ist Freiburg nicht die einzige Stadt, die das "Modell 30" gerne testen würde. In Darmstadt hatte sich Oberbürgermeister Jochen Partsch (Grüne) mithilfe des Landes Hessen ebenfalls an Scheuer gewandt, auch hier mit den bekannten Argumenten: Tempo 30 könnte für mehr Verkehrssicherheit sorgen, den Klimaschutz voranbringen, den Ausstoß an Schadstoffen senken - man müsste es nur mal ausprobieren. Auch die Gewerkschaft der Polizei in NRW plädiert neuerdings für ein innerörtliches Tempolimit von 30 km/h, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Scheuers Ministerium aber lehnte den Vorstoß aus Hessen ab. Und Partsch ist nach wie vor sauer: "Hier wird ein grundlegendes Interesse aus der Bürgerschaft ignoriert und eine Chance zu mehr Verkehrssicherheit und Anwohnerschutz vertan."

Das Meinungsbild ist gespalten

Aber ist das wirklich so? Was das "Interesse der Bürgerschaft" angeht, scheint das Meinungsbild zumindest gespalten zu sein: Eine Umfrage des ADAC kam 2018 zu dem Schluss, dass 77 Prozent aller Verbandsmitglieder (in der Regel Autofahrer) eine innerstädtische Regelgeschwindigkeit von 30 km/h ablehnen. Folglich spricht sich auch der ADAC dagegen aus. Der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD) plädiert hingegen dafür und hat sogar eine eigene Website zu dem Thema eingerichtet ("Tempo 30 für mehr Leben").

Was die Verkehrssicherheit angeht, ist die Sache ebenfalls nicht ganz eindeutig. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), spricht zunächst von einfacher Physik: "Wenn man langsamer fährt, sind die Anhaltewege kürzer und die Aufprallenergie ist geringer." Aber: Laut UDV werden 89 Prozent aller Radfahrer bei Geschwindigkeiten von unter 40 Stundenkilometer schwer oder tödlich verletzt, zum Beispiel beim Abbiegen (toter Winkel) oder durch eine Kollision mit einer sich plötzlich öffnenden Autotür (beim sogenannten Dooring). Durch eine niedrigere Regelgeschwindigkeit wäre das Gros der Radfahrer also nicht unbedingt sicherer unterwegs, gibt Brockmann zu bedenken.

Bei Fußgängern indes sei der Unterschied größer: Wenn sie schwer oder tödlich verletzt werden, sind in 30 Prozent der Fälle Geschwindigkeiten von über 40 km/h im Spiel. "Das ist nicht unerheblich", sagt Brockmann. Er selbst würde gerne einen Modellversuch starten, um einen Vorher-nachher-Vergleich in Bezug auf die Unfallzahlen zu haben. Dass der Verkehrsminister das Vorhaben blockiert, wurmt den Unfallforscher. "Es ist wie bei Tempo 130 auf der Autobahn", sagt Brockmann. In dieser Legislaturperiode, die ja ohnehin nur noch bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst läuft, rechne er jedenfalls nicht mehr mit einer anderen Ausgangslage.

Auch Bonn würde gerne einen Versuch wagen

Trotzdem gibt es Städte, die die Hoffnung nicht aufgeben. In Bonn etwa möchte die grüne Oberbürgermeisterin Katja Dörner nun ebenfalls eine 30 auf den meisten innerstädtischen Verkehrsschildern sehen. Dass andere Kommunen mit demselben Vorstoß gescheitert sind, entmutigt sie nicht: "Ich finde es sehr wichtig, dass Städte vorangehen und ihre Anliegen kundtun", sagt Dörner, die 2020 mit dem Versprechen angetreten ist, in Bonn eine grundlegende Mobilitätswende einzuleiten. Zuvor hatte sie elf Jahre lang ein Bundestagsmandat inne. "Auch da habe ich wahrgenommen, dass sich die Stimmung in der Verkehrspolitik allmählich ändert", sagt Dörner. Sie jedenfalls sei verhalten optimistisch. "Der stete Tropfen höhlt den Stein."

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