Velosolex:Kleines schwarzes Pferd

Vor 60 Jahren kam das erste Velosolex in die Niederlande. Aber längst hat das motorisierte Fahrrad weltweit Kultstatus erlangt - auch dank Brigitte Bardot, Louis de Funès, Steve McQueen und Jacques Tati.

Angelina Hermanns

Das Dorffest will am Himmelfahrtstag in der 512 Seelen zählenden Gemeinde Estree im Norden Frankreichs einfach nicht in Schwung kommen. Der Himmel ist grau und drückt auf die Feierlaune. Doch dann erscheint eine seltsame Truppe am Horizont - wenig später fahren elf Männer auf knatternden Zweirädern mit merkwürdig kleinen Motoren, die auf den Vorderrädern rasseln, die Dorfstraße herunter.

Velosolex: Spaß-Mobil: Das Velosolex bewegt seit Jahrzehnten Fahrer und Herzen.

Spaß-Mobil: Das Velosolex bewegt seit Jahrzehnten Fahrer und Herzen.

(Foto: Foto: R. Perrin/bridgemanart.com)

Sie machen Krach und sind 35 km/h schnell

Es ist ein Trupp des holländischen Solexklubs De Vrolijke Slurpers - zu deutsch: die fröhlichen Spritfresser -, der zum 60-jährigen Jubiläum der ersten, in den Niederlanden verkauften Maschine eine Jubiläumsfahrt von Paris ins heimische Heino unternimmt. Schnell kommt Stimmung auf, die Dorfschönen bitten zum Tanz, der Bürgermeister zu Tisch und am Ende will jeder mit aufs Abschiedsfoto. Denn wer auf einem Velosolex daherkommt, der wird, freut sich sichtlich zufrieden einer der Solexpiloten, "auf Händen getragen".

Das sind so die Geschichten, die man sich auch bei der großen nationalen Jubiläumsfeier im holländischen Oosterbeek erzählte. Mehr als 650 Solexliebhaber stritten um das eleganteste und das originellste Fahrerkostüm, duellierten sich bei Hochgeschwindigkeitsrennen und defilierten mit Mann, Frau, Kind und Hund in einem kilometerlangen Korso.

Wer das Solexfieber nie gespürt hat, der mag verwundert den Kopf schütteln. Was finden die Leute bloß an diesen alten Fahrrädern mit dem klappbaren Zweitaktmotor, die Krach machen, ein wenig stinken, nur bei kräftigem Rückenwind schneller als 35 Kilometer in der Stunde fahren und überdies bei Regen, Kälte und anderen widrigen Umständen nicht unbedingt zuverlässig sind?

Kleines schwarzes Pferd

Nun, Solex ist Kult. Im Leben und natürlich auch auf der Leinwand. Worauf fuhr die damals 17-jährige Brigitte Bardot in ihrem ersten Film "Le Trou Normand" durchs Dorf und brachte so die gesamte Männerwelt um den Verstand? Womit verfolgte Louis de Funès als Gendarm Gruchot die Frau seines Lebens? Worauf schlängelte sich Joseph Turner, alias Robert Redford, in Sydney Pollacks "Die drei Tage des Condor" durch den New Yorker Verkehr? Womit vergnügte sich Steve McQueen bei den Drehpausen zum Rennfahrerfilm "Le Mans"?

Velosolex: Wenn der Vater mit dem Sohne: Der französische Schauspieler und Regisseur Jacques Tati und sein Sohn Pierre sind unterwegs zu ihrem Haus in Saint-Germain-en-Laye bei Paris - auf einem Velosolex (1960).

Wenn der Vater mit dem Sohne: Der französische Schauspieler und Regisseur Jacques Tati und sein Sohn Pierre sind unterwegs zu ihrem Haus in Saint-Germain-en-Laye bei Paris - auf einem Velosolex (1960).

(Foto: Foto: AFP)

"La bicyclette qui roule toute seule"

Und unvergessen ist die Begegnung von Jacques Tati in der Rolle des Monsieur Hulot, dem ewig am modernen Alltag und der Tücke des unbelebten Objekts Scheiternden, mit einem Velosolex Modell 45cc in dem preisgekrönten Film "Mon oncle" . Hulot macht alles falsch, aber "la bicyclette qui roule toute seule" - dieses Fahrrad fährt wirklich wie von selbst.

Einfach in der Konstruktion und robust, billig in Anschaffung und Wartung und mit 1,2 Liter auf 100 Kilometer sparsam im Verbrauch - das waren in der Nachkriegszeit die wichtigsten Vorteile des Velosolex, als es 1946 in Frankreich in die Produktion ging. Und bis heute gilt: Jeder kann es handhaben. Das Vorderrad wird über eine Reibrolle angetrieben, die von dem kleinen Zweitakter angetrieben wird, der an der Gabel befestigt ist. Den Kraftstoff befördert eine Pumpe vom tiefer gelegenen Tank zum Vergaser.

Bei diesem Prinzip blieb es, auch wenn das Grundmodell im Laufe der Jahre immer weiter verbessert wurde. Unter anderem durch eine Kupplung - so brauchte man den Motor nicht nach jeder roten Ampel wieder von neuem in Gang setzen. Von 1961 an waren die Zündkerzen funkentstört, die Räder wurden kleiner, der alte Fahrradsitz bequemer. Ganz im Stil der farbenfrohen Sechziger gab es das Solex in Blau, Rotorange und Weiß oder sogar mit schicken Edelstahlschutzblechen.

Kleines schwarzes Pferd

Velosolex: Die Zukunft? 60 Jahre nach seiner Einführung hat der Designer Pininfarina jetzt ein Velosolex mit Elektromotor vorgestellt. Es soll tatsächlich produziert werden.

Die Zukunft? 60 Jahre nach seiner Einführung hat der Designer Pininfarina jetzt ein Velosolex mit Elektromotor vorgestellt. Es soll tatsächlich produziert werden.

(Foto: Foto: AFP)

Vor allem bei Pfarrern, Nonnen und Krankenschwestern war das Solex schnell beliebt. Der Schwanenhalsrahmen erleichterte das Auf- und Absteigen in Soutane und langem Gewand, der hoch liegende Motor schmutzte die Säume nicht ein. Auch Großstadtmenschen schätzten das ulkige Gefährt - im dichten Stadtverkehr konnte man sich geschickt an den Staus vorbeischlängeln. Und des weltweiten Erfolges des Zweirades wegen, zog die Firma Solex ein dichtes Netz von Servicestationen auf, das bis nach Dakar oder Saigon reichte. Dort gab es übrigens auch die noch heute von Sammlern geschätzten Zwei-Liter-Kanister Solexine - ein Öl-Benzingemisch, das British Petroleum 1947 für das Velosolex entwickelte.

Auf dem Solex "fühlt man sich ewig jung"

Der unbestreitbar große Nutzwert erklärt die Beliebtheit des Solex jedoch nur zu einem geringen Teil. Zum Kult ist es geworden, weil es zugleich Bewegung und Gemächlichkeit, Freiheit und Genuss ist. Man fühle sich ewig jung, beschrieb der französische Journalist Patrick Poivre d'Arvor das Lebensgefühl Solex. Man fahre gemächlich im Rhythmus des Lebens und habe Zeit, den Mädchen nachzuschauen und ihr Parfüm zu erahnen.

Der Novellist Jacques Sternberg, der sich rühmte, niemals ein Auto oder Motorrad benutzt, aber insgesamt 300.000 Kilometer auf dem Solex zurückgelegt zu haben, pries das Motor-Rad als die einzig mögliche Art der Fortbewegung; auch dem Gehen sei es vorzuziehen und schwärmte von seinem "diskreten Charme". Das moderate Tempo lasse Träumereien zu, sei aber im Sommer groß genug, um eine frische Brise auf der Haut spüren zu können, wenn man ohne Hemd fahre.

Aber Träume und Gefühle reichen eben nicht immer, ein Produkt auf dem Markt zu halten. Das Velosolex geriet unter die Räder des globalen Wettbewerbs, am 7. November 1988 schließlich kam das Aus. "Le petit cheval noir est mort" - das kleine schwarze Pferd ist tot - betrauerte Patrick Poivre d'Arvor das letzte Velosolex, das an diesem Tag vom Band lief. Nur noch 2800 Exemplare waren im letzten Produktionsjahr verkauft worden, in den besten Jahren waren es weltweit immerhin 350.000.

Kleines schwarzes Pferd

Doch der Mythos lebt weiter. In unzähligen Fangemeinden, vor allem in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, aber auch in Deutschland, Italien oder Japan. Und es sind nicht nur unverbesserliche Nostalgiker, die in ihren Garagen der eignen Jugend nachtrauern, sondern begeisterte Sammler, Tüftler und Schrauber jeden Alters, die die Legende am Leben halten und sich den Herausforderungen stellen, die der Mangel an Ersatzteilen und generelle Nachschubprobleme mit sich bringen.

Heute verständigt sich die Solex-Gemeinde über das Internet. Da kann man dann zum Beispiel präzise Anweisungen abfragen, wie man am besten auf einem Solex sitzt: linkes Bein nach vorn, rechtes möglichst weg von der Kraftstoffzufuhr. Das verlängere die Lebensdauer des rechten Schuhs und Hosenbeins - wenn auch, so der bedauernde Nachsatz, ein gewisser und typischer Solexmotorengeruch selbst beim akrobatischen Abspreizen des rechten Beins bis weit nach hinten auf den Gepäckträger an der Kleidung einfach unvermeidlich sei.

Das Internet als Kontaktforum

Antworten findet man auch auf die Fragen, wie man eine gebrochene Reibrolle repariert, die Kraftstoffdüsen durchpustet oder Ersatz für die gläsernen Kügelchen in der Kraftstoffpumpe auftreibt. Letzteres findet sich, so der Ratschlag, im Verschluss von Tintenpatronen. Realisten empfehlen als beste Winterwartung, das Gerät einfach für ein paar Monate an einem warmen Ort zu parken. Für den wahren Schrauber aber gilt es, während der kalten Jahreszeit, sein Gefährt zu pflegen, zu überarbeiten und zu tunen - denn nur dann ist die Zeit, die nötigen kniffligen Berechnungen anzustellen. Einfacher wäre es, eine der Nach- und Neubauten zu erwerben. Aber wer daran auch nur denkt, hat das wahre Solex-Leben nicht begriffen.

Die holländischen Solexriders von den Vrolijke Slurpers hatten übrigens nach der Rettung des Dorffests noch einige Abenteuer zu bestehen - darunter ein Unfall, verursacht durch einen kreuzenden Hasen -, erreichten aber nach fünftägiger Fahrt ihren Heimatort. Ihre Landsleute, von De Tjop Tjoppers in Tuk planen des Jubiläums und des zehnjährigen Bestehens ihres Klubs wegen im September eine noch viel spektakulärere Tour. Sie wollen mit ihren Solex die 3500 Kilometer lange Route 66 in den USA entlangknattern, auf der sonst nur schwere Harleys röhren.

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