Unterwegs mit dem 2CV:Wendekreis der Ente

Wo ist jetzt genau der Kapitalismus? Eine Fahrt mit dem 2CV von Moskau nach Bielefeld zeigt, wie wenig vom alten Gegensatz Ost und West geblieben ist.

Frank Nienhuysen

Ein paar Handgriffe sind es nur, aber sie sind wie ein Protest gegen die herrschende Ordnung. Den Schaltknüppel in den zweiten Gang nach vorn drücken statt nach hinten, dafür in den dritten nach hinten, und in den vierten wieder nach vorn, und langsam fädelt der Wagen ein in den Strom der Eitelkeiten. Schwarze Range Rover rauschen vorbei, kantige Land Cruiser, Grand Cherokees und BMW X5, West-Limousinen, die Scheiben so verdunkelt wie früher nur bei den Apparatschiks. Jetzt, da das Heer der alten Ladas und Wolgas allmählich aussortiert wird und Platz macht für eine schnelle, modernisierte Armee, scheinen Moskaus wuchtige Straßen endlich ebenbürtige Verbündete zu finden. Achtspurig der Leninskij Prospekt, zehnspurig der MKAD, eine jener konzentrischen Straßen, die sich um Russlands Hauptstadt gelegt haben wie Jahresringe an einem alten Baum.

Unterwegs mit dem 2CV: Der 2CV war früher das Vehikel der reiselustigen kapitalistischen Jugend.

Der 2CV war früher das Vehikel der reiselustigen kapitalistischen Jugend.

(Foto: Foto: Frank Nienhuysen)

Warum muss alles immer groß und stolz sein? Das Herzzentrum am Rande der Ausfallstraße, das weiße Oktagon der russischen Militärakademie, der Eckenzahl nach Sieger im Fernduell mit dem Pentagon in Washington, und die rollenden Symbole des russischen Kapitalismus. Die meisten, die vorbeiziehen, sind Inomarki, wie die Russen sagen, ausländische Marken. Ziemlich junge Jahrgänge noch, die Regierung hat die Steuer auf alte Gebrauchtwagen noch einmal erhöht. Aber wir fahren auch eine Inomarka, vermutlich älter als die meisten. Einen fran-zuskij Citroën, 2CV6, himmelblau, Baujahr 1988, mit 28 PS und einem Tank, der 25 Liter fasst. Eine Ente, gar nicht abgedunkelt, mit Scheiben so durchsichtig und klar, wie es der Moskauer Schmutz noch zulässt. Warum sich verstecken, wenn man sich schon bemüht, mit dieser Ente gegen den Strom zu schwimmen, in den Westen, bis nach Bielefeld?

Über elf Zeitzonen spannt sich Russland, der größte Flächenstaat der Erde, aber Hans sagt, es gebe im ganzen Land nur sechs Enten, die zugelassen sind. Eine in St. Petersburg, eine in Jekaterinburg und vier in Moskau. Zwei davon sind fahrtüchtig. Zumindest hat ihm das ein Mitarbeiter der russischen Präsidialverwaltung erzählt, der selber eine fährt. Gelb-schwarz stand sie da am Roten Platz, direkt an der bunt-verspielten Basilius-Kathedrale, also hat Hans ihr einen Zettel an den Scheibenwischer geklemmt. Inzwischen ist der Kontakt verloren, aber Hans verlässt Moskau ja ohnehin. Seit sechs Jahren ist er Lehrer an der Deutschen Schule in Moskau, nun zieht es ihn zurück nach Ostwestfalen, und sein 2CV ist das erste Umzugsgut, das Russland verlässt.

Bielefeld. Wie eine Gegenwelt zu Moskau, ein mausgrauer Bundesligaklub gegen sechs Erstligisten, Einwohner so viele wie im Sichtfeld allein der Moskauer Metrostation Jugo-Sapadnaja. Eine Stadt, die auf ihrer Internetseite mit ihrem fahrradfreundlichen Klima wirbt, während in Moskau Radfahrer so oft zu sehen sind wie französische Oldtimer mit zwei Zylindern. Denn das gierige Fortkommen zählt, Autofahren als Metapher für das raue, anarchistische Leben, in der die Zaghaften kaum Chancen haben. Quetschen, drängeln, links überholen, rechts überholen, dort, wo sich der schnelle Vorteil gerade bietet. Dabei einen kräftigen Geländewagen zu lenken, ist im Rausch des Straßenverkehrs eine Art Lebensversicherung. 360 Tote gab es in den ersten drei Monaten dieses Jahres, in Bielefeld waren es zehn im ganzen Vorjahr. Aber wegen der Sicherheit ist noch nie jemand Ente gefahren.

Jeder Verkehrspolizist hat die Macht, Zeit zu rauben

Es dauert nicht lange, und ein Autofahrer auf dem MKAD hupt und hebt den Daumen. In einem Schiguli fotografiert der Beifahrer mit seinem Handy, aus einem anderen reckt sich trotz des Regens aus einem Schiebedach eine Spiegelreflexkamera. Als legten manche Russen es schon wieder als Stärke aus, als Bockigkeit, sich freiwillig schwach zu zeigen und verletzlich. Wir fallen auf, und Hans fühlt sich bestätigt. Er hatte es schon vorher gewusst. Einmal hat ihm mitten auf einer Kreuzung ein Uniformierter aus einer nebenstehenden Limousine heraus einen Schlagstock ins offene Fenster geworfen, "a present", hat er gerufen.

Wie lange die Fahrt nach Bielefeld wohl dauern wird? Es gäbe den geraden Weg nach Deutschland, südwestwärts, über Smolensk, Minsk, die Weißrussland-Route, aber Hans wollte sich die Mühe sparen, noch ein weißrussisches Visum zu beantragen. Und so nutzt er aus, dass die Europäische Union weiter nördlich so nah schon an Russland herangewachsen ist. Nur etwas weniger als 700 Kilometer sind es von Moskau bis zur lettischen Grenze. Aber wozu überhaupt rechnen? Die Kilometer, die Stunden, die Tage? Wozu jagen wollen, wenn man nicht kann? Mit einem Auto, in dem die Tachoanzeige schon bei 120 endet und das sanfte Fahrgeräusch noch deutlich eher. In einem Land, in dem jeder Gaischnik, jeder Verkehrspolizist, die Macht hat, Zeit zu rauben. Wenn er nur will.

Der erste, der bei einer Kontrolle in Wolokolamsk zum Anhalten zwingt, will nicht. Fragt nur, wie alt das Auto denn sei, wohin die Fahrt gehe. "Schtschastliwowo puti", sagt er, "gute Reise". Dann ziehen sanft wieder die Birken vorbei, die Wälder, die verwaisten Betonhäuschen der Bushaltestellen. Ruhig ist Russland, sobald man Moskau verlässt, auch wenn in einer Ente diese Stille durch die kleine Windschutzscheibe nur zu sehen ist.

Dass Russlands Reichtum sich auf die Hauptstadt Moskau konzentriert, wird hinter dem Eingangsschild des Oblast Twer deutlich. Auf dem schwarzen Asphalt, wo der Regen die Löcher füllt und die schlimmsten Unebenheiten beschönigt. Es ist Twer zu wünschen, dass die Finanzkrise bald zu Ende geht. Twer, merk-würdig, es hätte vor fast 700 Jahren eigentlich ebenso gut Russlands mächtiges Zentrum werden können. Es war eines der vielen konkurrierenden Fürstentümer, nicht minder groß als Moskau, nicht weniger bedeutsam, im sumpfigen Waldgebiet gelegen das eine wie das andere. Nur war es eben Twer, das im 14. Jahrhundert verlor im großen Gemetzel, das Iwan Kalita, genannt der Geldsack, zusammen mit einem Tatarenheer begann. Sonst wäre die Fahrt vielleicht in Twer losgegangen, und die Ente hätte mit ihren dünnen Reifen Moskau nicht einmal touchiert.

Auf Enten ist Osteuropa nicht eingestellt

Hans fragt sich mit Blick auf den Baumbestand und den sumpfigen Boden, wie im Zweiten Weltkrieg die Truppen hier überhaupt geordnet voranmarschieren konnten. Der Gedanke, sehr viel langsamer könne es auch kaum gewesen sein, kommt, als ein einzelner Schlag noch heftiger klingt als die vorangegangenen. Eigentlich gibt es ja kein Auto, das gefederter über die Straßen rollt. Einen Korb randvoll mit rohen Eiern sollten die Bauern einst mit der Ente sanft vom Stall bis zum Markt bringen können und auch noch den Hut dabei aufbehalten. Das war die Vorgabe an die ersten Konstrukteure. Aber der Wagen zieht nicht umsonst nach rechts, der Reifen ist platt, die Felge verbogen. Eigentlich ist es nach 300 Kilometern zu früh für eine schlechte Zwischenbilanz. Der Ersatzreifen muss jetzt halten, auf Enten ist Osteuropa nicht eingestellt.

Welikie Luki ist eine der russischen Provinzstädte, die vor allem deshalb interessant sind, weil man durch sie hindurch muss, um von einem wichtigen Ort, Moskau, zu einem anderen wichtigen Ort, zum Beispiel die lettische Grenze, zu kommen. Ein Denkmal erinnert an eine Schlacht zwischen Deutschen und Russen vor fast 70 Jahren. Batterien von vierstöckigen Plattenbausiedlungen und schlichte Häuser mit nachlässig gepflegten Holzzäunen. Immerhin, es gibt zwei Hotels.

Endlich, das graue Gewölk bricht auf, und etwas Licht fällt auf mahnende Holzkreuze, die blumengeschmückt in den Straßensaum gesteckt sind. Es sind außerordentlich viele, der Zeitmangel, er prägt jetzt selbst die russische Provinz. Hans hat gegen diese Hast schon immer rebelliert. Es ist seine vierte Ente. Grün, gelb, rot waren die ersten, Insignien des kleinen Widerstands und irgendwann auch der Koketterie. Vor ein paar Jahren ist er einmal von Deutschland bis nach Odessa gefahren, im Jahr darauf noch einmal bis auf die Krim, und immer ist er in Osteuropa auch gern zum Opfer der Neugierde geworden. Die Ukraine, Russland, Lettland, Litauen, die Fragen sind immer die gleichen. Wie alt ist er denn? Auch der Motor? Immer noch der erste? Wo ist er überhaupt? Der Wachmann einer Tankstelle hinter Welikie Luki macht ein Foto. Ein Mann mit Schirmmütze ist überrascht, dass das Auto mit dem russischen Kennzeichen und den zwei deutschen Fahrern ein Franzose ist. "Und ich dachte, es ist ein Volkswagen", sagt er. Nein, kein Volkswagen. Ein Citroën. Eine Ente, eine "Utka".

Die russischen Behörden wünschen auf Plakaten noch einige Male "schtschastli-wowo puti", dann kommt Lettland. Und ein träge kriechender Wurm von Lastwagen auf der Gegenspur, so lang wie im Sommer vor dem Brenner. Der Osten wird aufgefüllt mit Westprodukten. Und sonst? Ist etwas anders zwischen Ludza und Rezkiene als zwischen Welikie Luki und Kornilowo? Zwischen der ehemaligen lettischen Sowjetrepublik und der früheren russischen Sowjetrepublik? Der Benzinpreis für 95 Oktan: 50 Cent in der Heimat von Gazprom und Lukoil, Rosneft und Tatneft. Etwa 1,30 Euro in Lettland, später in Litauen. Die Straßen? Sind glatter, und es fahren andere Autos darauf herum. Keine Ladas mehr, keine Wolgas. Und es gibt keine hohen Einfuhrzölle mehr: Die Westmodelle sind älter geworden, aus der Entenperspektive natürlich nur bedingt. Ist das etwa der Grund, dass die Utka nun plötzlich unattraktiver wird, die Grenze der Empathie überschritten ist? Nur noch selten wird die Ente fotografiert, und die Frage stellt sich, ob die Balten etwa schon gesättigte Europäer sind, die alles kennen. Sich nicht mehr scheren um einen alten Franzosen, mit aufgesetzten Scheinwerfern, so rund fast wie eine Glaskugel.

Nach dem Auto fragt die Kellnerin nicht

Wie sich die Welt gedreht hat. Früher war ja der Weg in den Westen der vom Antikapitalismus in den bürgerlichen Wohlstand, und die Ente gerade dort ein Symbol des fröhlichen Andersseinwollens. Und jetzt? Mit jedem Dorf zwischen Daugavpils und Bielefeld scheint den Menschen der alte Franzose zusehends gleichgültig zu werden. Als seien alle Gegensätze, alle Kontraste längst akzeptiert. Als nutze sich mit jedem Kilometer nach Westen seine Botschaft ab.

Europa nivelliert seine Standards, auch beim Asphalt. Kurz vor Kaunas liegt das erste Stück perfekter Schnellstraße, geteilt durch moderne Mittelleitplanken, frisch geweißelt und sauber die Pfeile. Hans, in seinen Gedanken gerade in Ostwestfalen, stellt sich vor, ebenso gut könne hier ein Schild stehen: Gütersloh, 15 km. Aber es sind noch 1200. Und ein paar Grenzen. Nur was sind das noch für Grenzen, wenn immer weniger einander trennt? Nur die Zlotys von den Litas, die Litas von den Lats. Wenn Grenzbeamte sich einen Jux machen, ihre kräftigen Körper rhythmisch auf den Kofferraum drücken und lächelnd das Auto zum Schaukeln bringen wie Bootswellen eine Ente auf dem See.

Ob Lettland, Litauen oder Polen - an Russland erinnert nun nicht mehr viel außer dem Netz der Lukoil-Tankstellen, das sich ausdünnt mit dem Zug nach Westen, den Haltestellen, die gelb-blau kariert sind oder rot oder grün und doch auch hinter dem sibirischen Krasnojarsk kaum trister wirken in ihrer Einsamkeit. Und dem eigenen Kennzeichen mit den Buchstaben "RUS". Vielleicht werden wir deshalb selber immer häufiger für Russen gehalten, je mehr wir uns Deutschland nähern. Wie von der Kellnerin in einem kleinen polnischen Motelcafé, die den Speisewunsch gleich auf Russisch erfragt. "Schto by wy chateli?" Nach dem Auto fragt sie nicht.

Bramki, Marysinek, Bieniewo Parcela, da muss man durch auf dem Weg nach Posen und weiter bis zur deutschen Grenze. Das Grün der Wiesen wird saftiger, Windräder erinnern an Deutschlands Norden, Trauerweiden an den Niederrhein, am Wegesrand taucht ein Fußballplatz auf, wie man es von den Landstraßen im dichtbesiedelten Deutschland kennt. In Russland sieht man fast nie einen Fußballplatz, wenn man einfach so dahinfährt. Osteuropäische Stimmung ist immer weniger spürbar, wenn man von Osten kommt. An der Autobahnraststätte fällt nun "Eisbein auf Bayerische Art" auf, nicht "Golonka po Bawarsku". Und die Ente fast gar nicht mehr. Ein Junge schaut immerhin interessiert, aber er will nur die Scheiben waschen. Hans lehnt dankend ab; den Schmutz aus Russland und dem Baltikum will er sicher bis nach Bielefeld bringen.

Eine Lukoil-Tankstelle liegt auf dem Weg

Der Blick durch das zweigeteilte Seitenfenster fällt nun auf Buchen statt auf Birken, auf ein Schild "Autogas umrüstung", auf Kleingartenanlagen, eine "Jägerraststätte". Eine letzte Lukoil-Tankstelle liegt auf dem Weg, dann senkt sich die Abendsonne auf das vom Tag erschöpfte Slubice an der deutsch-polnischen Grenze. Ein älterer Mann mit üppigem Bart hebt den Daumen, immerhin.

Deutschland, was ist anders? Niemand grüßt mehr, außer der warmen Frühlingssonne, die die Sinne flutet. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 hat für die Ente keine praktische Bedeutung. Sie kann nicht mehr. Am Bahnhof von Bielefeld steht sie nun, und wird doch noch einmal beachtet. Ziemlich unangepasst wirkt der junge Mann mit dem zotteligen Haar, der sich am Nachmittag aus einer Gruppe trinkender Jugendlicher löst, ein Bier in der Hand, an der langen Halskette ein Totenkopfschädel, der rhythmisch gegen seine Brust baumelt. "Ey, aus Russland seid ihr gekommen?", fragt er neugierig. Ja. Aus Moskau.

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