Unterwegs:Der kategorische Zeigefinger

Von allen Körperteilen, die der Mensch zum Autofahren braucht, wird der Zeigefinger am meisten unterschätzt. Denn damit wird der Mensch am Steuer zum höchstamtlichen Richter über Recht und Sitte im Verkehr. Tagtäglich.

Von Jörg Reichle

Preisfrage: Wie viele Körperteile sind zum Autofahren nötig? Nun ja, werden Sie sagen, ist doch klar: die Arme, die Beine, der Kopf. Lassen wir für einen Moment den Umstand beiseite, dass allzu oft die Ersteren unter Umgehung des Letzteren benutzt werden, so bleibt doch unumstößlich, dass die Arme zum Lenken, Schalten und Knöpfedrücken gebraucht werden sowie zum Öffnen von Türen, Klappen und Schiebedächern oder zum Tanken, Luft nachfüllen und solchen Sachen. Die Beine wiederum haben's einfacher: Mehr als Gas geben und bremsen müssen sie meist nicht. Bei handgeschalteten Getrieben - sowas gibt es vereinzelt noch - kommt außerdem das Kupplungtreten dazu. Am schwersten hat's wohl der Kopf, vielleicht bleibt er auch deshalb so oft deaktiviert.

In der Rangliste der am meisten unterschätzten Körperteile steht freilich der Zeigefinger ganz weit oben. Ihm wollen wir endlich zu seinem Recht verhelfen, kommt ihm doch - sowohl im unmittelbar körperlichen als auch im übertragenen Sinne - die unschätzbar wichtige Funktion zu, die Mitmenschen im Verkehr auf allerlei Verstöße gegen das Gesetz oder zumindest gegen die Vernunft hinzuweisen, je nach Temperament verbunden mit einem strafenden Blick, dem Gebrauch von Signalhorn, Lichthupe oder einer beliebigen obszönen Geste. Denn der gemeine Automobilist, vor allem der deutsche, ist im Recht und zwar jeder. Im Unrecht ist dagegen jeder andere. Und selbst der größte Duckmäuser, der tagsüber jahraus jahrein im Büro still die ihm erteilten Befehle erduldet, bläst sich auf dem täglichen Heimweg in seinem Blechkäfig zum höchstamtlichen Richter über Recht und Sitte auf. Und Anlässe gibt es ja wahrlich genug: Falschfahrer, Falschsteher, Falschparker, Falschabbieger, Falschblinker, Falscheinfädler, Falschüberholer, noch gar nicht zu reden von Falschfußgängern, Falschradfahrern und anderen fehlbaren Kreaturen. Kurz: Der Falschmensch ist allgegenwärtig.

Die Mehrheit der deutschen Autofahrer, heißt es, ist gegen Autos, die selber fahren. Das ist erstaunlich. Schließlich hätte man dann die Hände frei für zwei erhobene Zeigefinger gleichzeitig. Vielleicht hat da nur noch niemand dran gedacht.

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