Süddeutsche Zeitung

Unterwegs:Das Ritual der Lemminge

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Eine Studie zeigt es deutlich: In München verbringen Autofahrer viel zu viel Zeit im Stau. Doch statt nur den wirtschaftlichen Schaden der Steherei hochzurechnen, sollte man lieber mal die vielen Vorteile der Blechschlangen herausstellen.

Von Jörg Reichle

Wer losfährt, will ankommen, das hat eine gewisse Logik. Aber weil längst immer mehr dasselbe wollen, bekommen es immer weniger. So ist das halt. Von allem zu viel. Zu viele Menschen, zu viele Autos.

Das kann einem schon mal zu viel werden. Wer in München wohnt, weiß das gut. Und nicht nur, weil am Wochenende

gefühlt die halbe Stadt über die Autobahn Richtung Alpen strebt und abends wieder retour. Dann atmet die Stadt stinkende Blechkarawanen aus- und wieder ein. Wie allwerktäglich übrigens auch, zuverlässig im Rhythmus der

Werktätigen: rein ins Büro, raus aus dem Büro. Das Ritual der Lemminge.

Gerade hat man das schwarz auf weiß bestätigt bekommen. Die Studie eines Verkehrsdienstleisters bestätigt, was viele ohnehin schon längst geahnt haben: Das Stau-Ranking von 62 deutschen Städten führt München an, knapp vor Heilbronn (sic!), Köln, Stuttgart, Hamburg und Berlin. 49 Stunden verbringt danach der durchschnittliche Münchner Automobilist allein während der Stoßzeiten im Zustand der Bewegungslosigkeit seiner vier Räder. Ein neuer Superlativ also nach der "nördlichsten Stadt Italiens", der "attraktivsten Metropole Deutschlands", der mit den höchsten Mietpreisen. Und so weiter. Aber halt, zu früh der Jubel: Anderswo auf der Welt sind die Staus noch länger. Unter 1064 untersuchten Städten rund um den Globus liegt München nur auf Platz 36. Gemessen an den 104 Stunden die Autofahrer etwa in Los Angeles im Stau verbringen, geht es in unserer Stadt ja geradezu störungsfrei dahin.

Natürlich haben jetzt wieder die Krämerseelen Konjunktur.

Die rechnen uns vor, wie groß der volkswirtschaftliche Schaden durch den Stillstand ist. Wie albern, oder hat je einer ausgerechnet, was so ein Stau an Gutem bewirkt? Gab es je eine bessere Ausrede für einen geplatzten Termin? Findet der gestresste Berufsmensch je müheloser zu sich selbst als im erzwungenen Stillstand? Nie hat sich einer auch die Mühe gemacht, all die Flirts aufzuzählen, die Sie und Er so ganz Blech an Blech und völlig unverfänglich austauschen. Und damit der Stopp ohne Go vollends seine wohltuende therapeutische Wirkung entfalten kann, sei der Rat der Motivationstrainerin Vera F. Birkenbihl empfohlen: 60 Sekunden nonstop grundlos lächeln und das innere Glück ist nahezu vollkommen. Und was sind schon 60 Sekunden in 49 Stunden?

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Quelle:
SZ vom 04.03.2017
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