Süddeutsche Zeitung

Unfallhelfer:Echte Heldengeschichten

Auf den Straßen passiert jeden Tag viel Schlimmes - doch es gibt auch immer wieder Menschen, die bei Unfällen selbstlos helfen. Sechs Geschichten von Mut und Hilfsbereitschaft.

Von Marco Völklein

3040 Verkehrstote hat es nach einer Schätzung des ADAC im vergangenen Jahr gegeben - das wäre der niedrigste Wert seit Beginn der offiziellen Aufzeichnungen. Die tatsächlichen Werte wird das Statistische Bundesamt erst im Laufe des Frühjahrs veröffentlichen. Vor Jahrzehnten lagen die Opferzahlen noch im fünfstelligen Bereich, 1970 kamen mehr als 21 000 Menschen im Straßenverkehr ums Leben. Schon damals wurden Aktionen zur Verkehrssicherheit ins Leben gerufen, seit 1959 gibt es beispielsweise den "Kavalier der Straße". Mehrere Tageszeitungen (darunter die SZ) ehren seither Menschen, die bei Unfällen geholfen haben. Dadurch sollen andere motiviert werden, ebenfalls zu helfen. Beteiligt sind unter anderem auch BMW, der Verkehrssicherheitsrat DVR sowie die Automobilklubs ADAC und ARCD.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Aktion "Held der Straße" unter der Schirmherrschaft des Bundesverkehrsministeriums von Andreas Scheuer (CSU). Unterstützt wird die Aktion vom Automobilzulieferer Goodyear, dem Fachmagazin Trucker und vom Automobilclub von Deutschland (AvD). Jeden Monat werden Menschen ausgezeichnet, die besonnen, mutig und selbstlos andere Verkehrsteilnehmer vor Schaden bewahrt und so für mehr Sicherheit im Straßenverkehr gesorgt haben.

Anna-Katharina Jantschke holte einen Radfahrer zurück ins Leben

Anna-Katharina Jantschke wäre der gestürzte Radfahrer vermutlich gar nicht aufgefallen, hätte ihr Beifahrer sie am Abend des 13. Juli 2018 nicht auf die Gruppe von Menschen aufmerksam gemacht, die da am Straßenrand in Witten stand. "Offenbar war kurz zuvor ein Radfahrer gestürzt und hatte sich schwer am Kopf verletzt", erinnert sich die junge Frau. Wie sich später herausstellte, war der 61-jährige Radfahrer aufgrund eines medizinischen Notfalls bewusstlos geworden und von seinem Fahrrad gefallen.

Mit Atem- und Herzstillstand liegt er nun am Boden. "Der Mann war bereits ganz blau im Gesicht, als ich den Unfallort erreichte, also begann ich sofort ihn wiederzubeleben", beschreibt Anna-Katharina Jantschke die Situation. "Ab diesem Moment lief alles wie in einem Film ab und ich habe einfach funktioniert."

Außerdem weiß Anna-Katharina Jantschke genau, was sie zu tun hat. Die junge Frau engagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr und beim Deutschen Roten Kreuz. Während sie um das Leben des Mannes kämpft, verständigen andere Passanten den Rettungsdienst. Als der Notarzt kurz darauf eintrifft, übernimmt dieser die weitere Versorgung des Patienten, der sich kurz darauf wieder stabilisiert. Für die "Held der Straße"-Jury ist dennoch klar: Ohne das vorbildliche und unverzügliche Handeln von Anna-Katharina Jantschke hätte der verunglückte Mann wohl kaum überlebt.

Aber auch wenn in diesem Fall jemand geholfen hat, der sich auskennt, betonen Fachleute stets, wie wichtig es ist, Erste Hilfe zu leisten. Der Besuch eines entsprechenden Kurses kann Leben retten, sagt Elisabeth Babjar von der Johanniter-Unfall-Hilfe. Laut einer Umfrage trauen sich 40 Prozent der Bundesbürger nicht zu, im Notfall Erste Hilfe zu leisten. 88 Prozent begründen ihre Aussage mit der Angst, etwas falsch zu machen. "Doch nur Nichtstun ist ein Fehler", sagt Babjar. Eine Studie der Uni Würzburg zeigt, dass bereits zwei Jahre nach dem Besuch eines Erste-Hilfe-Lehrgangs das Wissen um 50 Prozent gesunken ist. Babjar rät daher, die Kenntnisse alle zwei bis drei Jahre in einem Kurs (neun mal 45 Minuten) aufzufrischen.

Detlef Hedderich steuert seinen Laster weg von der Gefahrenstelle

Eigentlich sollte der Montag im Januar 2009 für Lkw-Fahrer Detlef Hedderich ein ganz normaler Arbeitstag werden. Er ist mit seinem Gefahrguttransporter unterwegs auf der A1 von Lüneburg nach Bremen, auf einer Strecke, die er schon oft gefahren ist. Geladen hat er Gasflaschen, darunter auch mit Sauerstoff gefüllte Stahlflaschen. Eigentlich eine Routinetour, doch auf Höhe des Parkplatzes Hittfeld am Maschener Kreuz hört er plötzlich einen lauten Knall und sieht im Rückspiegel Rauch aufsteigen.

Hedderich steuert nach rechts und stoppt den Lkw auf dem Standstreifen kurz vor der Parkplatzausfahrt. Er steigt aus und sieht, dass ein Reifen seines Aufliegers brennt. Als er den Feuerlöscher holen will, greift der Brand weiter um sich. "Es war eine riesige Stichflamme, die ich nicht einfach so löschen konnte", erzählt der Lkw-Fahrer. In einer Situation, in der wohl die meisten sich um ihre eigene Sicherheit gesorgt hätten, ergreift Hedderich die Initiative: Er steigt wieder ins Führerhaus und fährt mit 40 Stundenkilometern weiter, verständigt über Handy die Polizei. "Das war einfach Bauchgefühl. Ich stand vor einem mit Lkw und Pkw gut besuchten Parkplatz und dachte: Wenn die Gasflaschen hier explodieren, bleibt weit und breit nichts mehr stehen."

Hedderich setzt darauf, dass die Flammen am Auflieger durch den Fahrtwind von der explosiven Ladung weggeweht werden. Und sein Plan funktioniert: Die Einsatzkräfte lotsen ihn 15 Kilometer weiter auf der Autobahn, die mittlerweile in beiden Richtungen gesperrt ist. Mit der Feuerwehr dicht hinter ihm fährt Hedderich bald nur noch auf den Felgen bis kurz hinter die Anschlussstelle Rade. Weiter kommt er nicht. "Irgendwann fiel die Bremsanlage des Aufliegers aus und das Feuer hatte die kompletten Reifen der Hinterachse aufgefressen."

Nun bleibt Hedderich nichts mehr, als möglichst schnell das brennende Fahrzeug zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Der Feuerwehr gelingt es schließlich, den Brand am stehenden Lkw zu löschen - die Gefahr ist gebannt. Die "Held der Straße"-Jury urteilt später: Durch das besonnene Handeln und den Mut von Detlef Hedderich wurde eine Katastrophe verhindert, die schreckliche Ausmaße hätte haben können.

"Nein", sagt Mathias Käser, eine wilde Verfolgungsjagd, etwa wie im Kino, "nein, so war das ganz und gar nicht". Das wäre ja auch viel zu gefährlich gewesen. Der 38-jährige Münchner ist im Oktober 2018 auf dem Weg nach Hause, gegen 0.30 Uhr erreicht er eine Kreuzung im Münchner Südwesten. Kurz zuvor ist dort ein Auffahrunfall passiert, ein BMW-Fahrer ist auf das Heck eines Abschleppfahrzeugs aufgefahren. Eigentlich keine große Sache, ein Bagatellschaden, wenngleich der BMW des Unfallfahrers offenbar an der Front ziemlich schwer demoliert wurde. Der BMW-Fahrer allerdings schert sich wenig um den Schaden. Er steigt wieder in sein Auto und fährt weg. Fahrerflucht!

Käser beobachtet den Zwischenfall, so wie weitere Zeugen. "Das waren aber überwiegend Fußgänger", erzählt Käser. Er dagegen ist mit dem Motorrad unterwegs - und nimmt die Verfolgung des Unfallfahrers auf. 600, vielleicht 700 Meter, sagt Käser, folgt er dem BMW, an einer der nächsten Kreuzungen hält der Fahrer an einer roten Ampel an, "ganz vorschriftsmäßig". Käser überholt den BMW und stellt sich mit seinem Motorrad vor das Auto.

Er versucht die Zündung des Wagens zu unterbrechen, drückt den Motor-aus-Knopf des BMW. Der Unfallfahrer wird aggressiv, geht Käser verbal an. Der 38-Jährige kann einen Rettungswagen, der zufällig vorbeikommt, anhalten - auch der stellt sich vor den BMW. Gemeinsam mit der Besatzung des Rettungswagens verhindert Käser, dass sich der Mann entfernt. Kurz darauf trifft eine Polizeistreife ein und nimmt den BMW-Fahrer vorläufig fest. "Das war ein ziemlicher Hüne", erinnert sich Käser. "Die Polizei hatte ziemlich zu tun." Später stellt sich heraus, dass der Mann erheblich alkoholisiert war.

Auch wenn Käser sagt, "dass das keine große Sache gewesen" sei, zeichnete die Jury von "Kavalier der Straße" den Münchner vor Kurzem aus. Nach Einschätzung der Münchner Polizei hätte der Mann ohne Käsers Einsatz seine Trunkenheitsfahrt womöglich fortgesetzt. Auch Julia Fohmann vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) findet, dass Käsers Eingreifen eine Vorbildfunktion habe. Sie fordert deshalb, vorbildliches Verhalten im Straßenverkehr noch mehr herauszustellen: "Reden Sie darüber und ermutigen Sie andere, das Gleiche zu tun", so Fohmann.

Tobias Lenkeit lotste die Retter zu einem verunglückten Motorradfahrer

Tobias Lenkeit ist selbst Motorradfahrer, und so merkt er relativ rasch, dass das Motorrad, das ihm da gerade entgegenkommt, viel zu schnell unterwegs ist. "Das Motorrad kam in einer Rechtskurve immer mehr auf meine Fahrbahnseite, ich musste nach rechts ausweichen", erinnert sich der Servicetechniker für Baumaschinen. "Die Maschine schoss an mir vorbei und fing dabei bereits an zu straucheln", erzählt Lenkeit. "Ich dachte nur: Der kann die Kurve nicht gekriegt haben." Das war Ende Juli 2019.

Der 32-Jährige dreht um, kann Bike und Biker aber nicht ausmachen. "Im angrenzenden Wald suchte ich nach irgendwelchen Anzeichen, bis ich eine kleine Bremsspur vor dichtem Gebüsch sah." Lenkeit arbeitet sich durch das Gebüsch und entdeckt den Motorradfahrer in 15 Meter Tiefe am Fuß einer Böschung.

Der Servicetechniker setzt einen Notruf ab: "Ich hatte etwas Handyempfang auf der Anhöhe." Dann klettert er zu dem verunglückten Kradfahrer hinunter: "Der Mann war bei Bewusstsein und hatte seinen Helm selbst abgenommen. Er versuchte aufzustehen, doch ich hinderte ihn sofort daran. Ich wusste ja nicht, ob vielleicht seine Wirbelsäule verletzt wurde." Bis zum Eintreffen von Notarzt, Feuerwehr und Polizei hält Lenkeit den Verunglückten bei Bewusstsein. Später werden die Ärzte bei dem Motorradfahrer mehrere Brüche im Bereich der Wirbelsäule diagnostizieren, außerdem Rippenbrüche.

Zuvor aber müssen die Rettungskräfte mit Leitern und Seilzügen anrücken, um den Motorradfahrer aus der Tiefe zu holen, auch Lenkeit schafft es ohne die Hilfe der Feuerwehr nicht mehr allen nach oben. Ein Helikopter bringt den Kradfahrer schließlich in ein Krankenhaus.

"Die Einsatzkräfte sagten mir gleich: Den hätten wir nie gefunden", erzählt Lenkeit später. In der Tiefe gab es zudem keinen Handyempfang, der Motorradfahrer hätte selbst also niemanden anrufen können. Umso wichtiger war es, dass der Ersthelfer zuerst den Notruf an die Rettungskräfte absetzte, bevor er sich zu dem Verunglückten die Böschung hinunterarbeitet - ansonsten wären beide, Helfer und Unfallopfer, von der Außenwelt abgeschnitten gewesen.

Hanko Penshorn erinnert sich noch genau an den Morgen des 8. Januar 2015: "Ich war in Wilhelmshaven unterwegs, als mir in einer scharfen Kurve ein Auto entgegenkam, das so schlingerte, dass ich Angst hatte, es würde zu einer Kollision mit meinem Pkw kommen." Wenig später beobachtet der heute 35-Jährige im Rückspiegel, wie sich das Auto um 180 Grad dreht und gegen den Bordstein prallt.

Durch die Wucht des Zusammenstoßes wird der Pkw quasi aufgebockt und stürzt anschließend kopfüber in einen mit Schlamm und Wasser gefüllten Graben. Penshorn, der damals eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten absolviert und heute als Leitender Angestellter in einem Elektromarkt arbeitet, wendet und fährt zurück zur Unfallstelle: "Ich rannte zu dem Auto und war erschrocken, dass die Scheiben fast komplett im Wasser versunken waren. Ich hoffte einfach nur, die Insassen würden nicht ertrinken."

Im hinteren Seitenfenster sieht Hanko Penshorn plötzlich eine kleine Hand: Im Fond ist ein Kind. Er beginnt sofort damit, die Fahrzeugtür zu öffnen. Das allerdings ist für ihn gar nicht so einfach: Sein linker Arm ist nach einem Motorradunfall gelähmt und die Tür lässt sich wegen des Schlamms nur schwer bewegen. Für Penshorn wird das Ganze zum Kraftakt.

Unterdessen kann sich die Fahrerin selbst befreien und versucht ebenfalls, ihr laut schreiendes Kind von der Rücksitzbank zu retten. Das aber stellt sich ebenfalls als äußerst knifflig heraus: Das Mädchen hängt kopfüber im Kindersitz. Zu zweit schließlich schaffen es Penshorn und die Fahrerins, das Kind zu befreien. Mittlerweile sind weitere Helfer eingetroffen, sie nehmen ihm das Kind ab und verständigen die Rettungskräfte.

Was Hanko Penshorn noch heute verwundert: Als er versucht, die Autotür aufzustemmen, fahren direkt neben ihm andere Autos vorbei, drei, vier Stück, ohne anzuhalten. "Das kann ich nicht nachvollziehen", sagt Penshorn. Er selbst engagierte sich jahrelang bei der Freiwilligen Feuerwehr. "Wenn ich sehe, dass da ein Auto mit Warnblinklicht steht, schau' ich doch, ob ich helfen kann und fahre nicht einfach stur weiter." Penshorn findet: "Wenn weniger Verkehrsteilnehmer bei Unfällen einfach weiterfahren, können in Zukunft viele Menschenleben gerettet werden."

Herbert Hertwig kletterte zu einem Lkw-Fahrer in die Kabine

Herbert Hertwig sagt von sich selbst, dass er ein ziemlich gelenkiger Kerl sei, gerade mal 1,79 Meter groß und lediglich 64 Kilogramm schwer. "Wenn ich irgendwo rein will", erzählt der 62-Jährige aus Olsberg im Hochsauerlandkreis, "dann komm' ich da auch rein."

Bei einem Unfall im März 2019 auf der A44 bei Werl war es diese Eigenschaft, die einem verunglückten Lkw-Fahrer weiterhalf. Hertwig ist gegen neun Uhr morgens auf der Autobahn unterwegs, der Verkehr stockt. Plötzlich wird ein Kleinlaster auf der rechten Spur an ihm vorbeikatapultiert; wie sich später herausstellt, hatte ein 40-Tonner den Kleinlaster gerammt. Hertwig, der als gelernter Schreiner schon so manche brenzlige Unfallsituation mitgemacht hat, behält die Nerven und erkennt, dass der Fahrer des 40-Tonners seine Hilfe am dringendsten braucht. Der Mann hängt blutüberströmt in seinem völlig deformierten Fahrerhaus, ist dort eingeklemmt, kann sich nicht befreien. Auch Hertwig kriegt weder die Fahrer- noch die Beifahrertür auf - und zwängt sich deswegen von vorne durch den Motorraum hindurch zu dem Lkw-Fahrer in die Kabine.

Dort kann er sich nur neben den Mann knieen, er spricht ihm Mut zu, tupft mit herumliegenden Klamotten das Blut ab. "Ich wollte klären, ob er nicht etwa heftig aus einer Schlagader blutete." Das war aber, Gott sei Dank, nicht der Fall. Hertwig steht dem Mann weiter bei, sagt: "Du brauchst Dich um nichts zu kümmern, ich mache das." Kurz darauf treffen profesionelle Rettungskräfte ein. Der Notarzt wundert sich, ruft zu Hertwig ins Fahrerhaus: "Wie sind Sie denn da reingekommen?"

Hertwig streckt den Arm des verletzten Fahrers durch die zertrümmerte Windschutzscheibe nach draußen, sodass der Arzt einen Zugang legen kann. Zudem klagt der Fahrer über heftige Schmerzen in den Beinen. Auf Anweisung des Arztes spritzt Hertwig ihm Morphium. Für den 62-Jährigen kein Problem: "Ich habe Pferde, denen ich auch schon mal eine Spritze geben musste." Eineinhalb bis zwei Stunden benötigt die Feuerwehr, um den Lkw-Fahrer aus dem Führerhaus zu schneiden, anschließend holen sie auch Hertwig raus. Einer der Helfer fragt ihn, wie es ihm gut. "Gut", sagt Hertwig, der nur mit einer dünnen Jacke bekleidet in den Unfall-Lkw geklettert war. "Mir ist nur schweinekalt."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4741862
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.01.2020/cku
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.