Unfälle im Straßenverkehr:"Wer rast, sündigt!"

Noch immer gibt es in Polen und Litauen die meisten Verkehrstoten in Europa. Kampagnen von Staat und Kirche sollen Abhilfe schaffen.

Thomas Urban

Tausende Holz-, Stein- und Eisenkreuze stehen im ganzen Land am Rande von Polens Fern- und Landstraßen. Sie sind mit Blumensträußen geschmückt, Grablichter erinnern daran, dass genau an dieser Stelle ein Mensch zu Tode gekommen ist. Meist war der Grund für den Verkehrsunfall banal: Verlust der Kontrolle über das Fahrzeug wegen überhöhter Geschwindigkeit. Nicht anders als die Polen ehren auch viele Litauer, die ebenfalls katholisch sind, ihre Verkehrstoten. Auch hier fährt man, möglicherweise in festem Gottvertrauen, viel zu schnell. Litauen und Polen sind die Schlusslichter in der aktuellen Verkehrstotenstatistik unter den Ländern der Europäischen Union, die kürzlich der Europäische Rat für Verkehrssicherheit (ETSC), eine in Brüssel angesiedelten Non-Profit-Organisation, veröffentlicht hat.

Unfälle im Straßenverkehr: Verkehrstote im Straßenverkehr - eine Auswertung

Verkehrstote im Straßenverkehr - eine Auswertung

(Foto: Grafik: SZ)

Verglichen hat der ETSC darin auch die Entwicklungen von 2001 bis 2008. Innerhalb dieser sieben Jahre konnte beispielsweise die Bundesrepublik die Zahl der Verkehrstoten pro Million Einwohner um 36 Prozent reduzieren, nämlich von 85 auf 54. Die Deutschen liegen damit im europäischen Vergleich gemeinsam mit Norwegen auf dem sechsten Rang. Das sicherste Land in Europa ist das kleine Malta, wo im vergangenen Jahr bei 460.000 Einwohnern fünfzehn im Straßenverkehr ihr Leben ließen, mathematisch gesehen also 37 pro eine Million. Es folgen Schweden, Großbritannien, die Niederlande und die Schweiz.

Keineswegs überraschend versammeln sich am Tabellenende die ehemaligen Ostblockstaaten in der EU, mit einer Ausnahme: Den drittletzten Rang nimmt Griechenland zusammen mit Rumänien mit 142 Toten pro eine Million Einwohner ein. In den Ländern am Tabellenende liegt das Risiko, Opfer eines tödliches Verkehrsunfalles zu werden, also fast dreimal so hoch wie in der Bundesrepublik. In Polen sind es 143 Todesopfer, in Litauen sogar 148.

Dabei fällt allerdings ein gravierender Unterschied ins Auge: In Polen blieben die Zahlen nahezu unverändert, es gab innerhalb der sieben Jahre eine geringfügige Verbesserung in der Statistik von 145 auf 143. Hingegen haben die Litauer es dank rigoroser Geschwindigkeitskontrollen und der Entschärfung von Unfallschwerpunkten geschafft, die schwarze Ziffer von 202 auf 148 zu drücken, eine Verbesserung um immerhin 29 Prozent. Die benachbarten Letten konnten auf dieselbe Weise die Zahl ihrer Verkehrstoten sogar um 43 Prozent senken, von 236 auf 139, was ihnen den Aufstieg vom Ende der Tabelle auf den fünftletzten Platz einbrachte.

Im Verkehr so wagemutig wie einst die Husaren?

In Polen hat der ETSC-Bericht eine heftige Debatte ausgelöst. Es wird auf den schlechten Zustand der Straßen hingewiesen, auf das Fehlen eines Netzes von Autobahnen. In der Tat haben alle polnischen Regierungen nach der Wende von 1989 zunächst wenig in den Straßenbau investiert. Zum einen war das Land hoch verschuldet, zum anderen wartete man den EU-Beitritt ab, der schließlich im Jahr 2004 erfolgte. Nun endlich wächst das Fernstraßennetz. Den zweiten Grund für die hohe Zahl an Verkehrstoten sehen Experten im unzureichenden Rettungssystem in den postkommunistischen Ländern. Erst allmählich werden flächendeckend Notarztstationen aufgebaut, doch gerade auf dem Land ist man in Polen und in den baltischen Staaten meist noch weit davon entfernt. Als drittes wird der Zustand der Personenwagen angeführt. Sie sind im Durchschnitt älter als zehn Jahre, verfügen oft weder über Airbag, noch über ABS und andere elektronische Sicherheitseinrichtungen, die Leben retten könnten.

Allerdings führen diese wiederum dazu, dass die Fahrer noch leichtsinniger werden, was das Hauptproblem namentlich auf Polens Straßen zu sein scheint. Soziologen sind zur Erkenntnis gekommen, dass ein Teil der polnischen Männer sich hinter dem Steuer offenbar in der Rolle des wagemutigen Draufgängers sieht, wie ihn die Dichtung der Romantik in den kühnen Husaren und Ulanen besungen hat. Auch lebt wohl das Rollenbild des allzeit streitsüchtigen und duellbereiten Pans weiter - also des Landadligen, der sich nur ungern an die Regeln der Obrigkeit hält, gleichzeitig aber rechthaberisch ist und anderen stets seine Überlegenheit beweisen muss. Untersuchungen haben ergeben, dass etwa ein Viertel der Autofahrer notorisch drängelt, trotz Gegenverkehr überholt und somit andere Verkehrsteilnehmer zu Vollbremsungen zwingt.

Grundsätzlich wird in Polen, aber auch in den benachbarten baltischen Staaten, zu schnell gefahren - vor allem in geschlossenen Ortschaften. In der Statistik für diese Länder wird zwar ein Drittel der Verkehrstoten auf Missachtung der Vorfahrt zurückgeführt; doch auch in diesem Punkt dürfte mehrheitlich überhöhte Geschwindigkeit die eigentliche Ursache sein: Der Vorfahrtsberechtigte rast auf eine Kreuzung zu, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen, denn die anderen müssen ja warten.

Die tiefere Ursache für diese Missachtung von Regeln sehen Soziologen auch in der Geschichte dieser Länder: In den letzten beiden Jahrhunderten waren Polen und Litauen insgesamt jeweils nur drei Jahrzehnte souveräne Staaten. Die Erfahrung der Fremdherrschaft hat in der Gesellschaft eine generelle Skepsis gegenüber jeder Art von Obrigkeit wachsen lassen, die Missachtung von Verkehrsregeln gilt deshalb eher als Kavaliersdelikt. Allerdings versuchen gerade in Polen die Behörden zu oft überaus ungeschickt, die Raserei einzudämmen, wenn sie zum Beispiel Geschwindigkeitsbegrenzungen verhängen, deren Sinn die Autofahrer nicht erkennen. So gilt für die dreispurige Straße am linken Weichselufer in Warschau durchgehend Tempo 50, obwohl sie sehr breit und weitgehend kreuzungsfrei ist. Natürlich hält sich kein einziger Autofahrer daran, wenn kein Radarwagen am Rande steht. Es gibt Hunderte ähnlicher Beispiele im ganzen Land. Auf diese Weise, so beklagen viele Verkehrspsychologen, sabotierten die Behörden das eigene und richtige Ziel, die Fahrer zu mehr Verantwortungsbewusstsein zu erziehen.

Die Griechen müssten eigentlich das Schlusslicht sein

Allerdings verweisen Warschauer Verkehrspolitiker darauf, dass in der ETSC-Statistik ein wichtiger Aspekt nicht berücksichtigt wird: die deutlich gestiegene Verkehrsdichte. So hat die Zahl der Personenwagen im letzten Jahrzehnt um mehr als 50 Prozent zugenommen, während die Zahl der Toten geringfügig abgenommen hat. Falls die individuelle Kilometerleistung in die Berechnung einbezogen würde, so würde in Polen sichtbar, dass sehr wohl große Fortschritte bei der Erhöhung der Verkehrssicherheit erzielt worden seien, rechnen Kommentatoren vor. In einer derartigen Rechnung wären die Griechen einsames Schlusslicht in der EU.

Doch auch die auf die Kategorie Verkehrstote pro Einwohner beschränkte ETSC-Statistik lässt erwarten, dass Polen und Litauen die rote Laterne in naher Zukunft abgeben. Denn in beiden Ländern werden Millionen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit ausgegeben, zur Hälfte jeweils finanziert aus Brüsseler Töpfen. Es handelt sich um Tausende Einzelprojekte - vom Bau einer Ortsumgehung über neue Kreisverkehre, die gefährliche Kreuzungen ersetzen, bis hin zu schlichten Fußgängerampeln.

Hinzu kommt eine umfassende Reform des Fahrunterrichts und der -prüfungen: Mussten die Fahrschüler früher technische Einzelheiten und Ausnahmeregeln auswendig lernen, überdies vor allem zentimetergenaues Einparken üben, liegt nun der Unterrichtsschwerpunkt auf Verhalten und Kommunikation im fließenden Verkehr. Gleichzeitig haben Medien, Politik und die katholische Kirche bei den Schlusslichtern Litauen und Polen große Kampagnen gestartet, durch die den Fahrern Leichtsinn und Draufgängertum ausgetrieben werden soll. Zeitungen drucken Fotos von den schönsten Wegkreuzen für Verkehrsopfer, der Staat finanziert Kampagnen im Fernsehen für sicheres Fahren, und in Hirtenbriefen katholischer Bischöfe in beiden Ländern heißt es schlicht: "Wer rast, sündigt!"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: