Süddeutsche Zeitung

Tokyo Motor Show:Wohnen auf Rädern

Das Auto der Zukunft soll nicht nur Gefährt, sondern Wohnzimmer sein. Auf der Auto-Show in Tokio richten sich Hersteller an alle, die gerne fahren - aber bitte mit gutem Gewissen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Für den Shuttle-Bus in die Zukunft muss man anstehen. 40 Minuten, heißt es auf einem Schild. Das ist ein bisschen viel für die paar hundert Meter, die bei der "Tokyo Motor Show" zwischen der Halle mit der sogenannten Ariake-Ausstellung und der "Future Expo", dem abgefahreneren Teil der japanischen Automobil-Messe, liegen. Aber es ist auch ein schönes Zeichen, gerade bei einer Unternehmer-Schau zur Mobilität von morgen: Beim Aufbruch in die Zukunft hakt es manchmal, und am Ende stellt man fest, dass der Fortschritt in der ältesten Form der menschlichen Fortbewegung liegt: Zu Fuß zu gehen ist oft einfach die beste Idee.

An diesem Tag allerdings nicht, weil ein anhaltender Sintflutregen auf das Tokioter Messegelände Bright Site einprasselt. Womit man beim nächsten Zeichen wäre: Die Welt wird nicht besser dadurch, dass man das Auto abschafft. Es geht eher darum, den richtigen Antrieb für den richtigen Moment zu finden: Der computergesteuerte Zug der Yurikamome-Linie bringt die Besucher trocken, abgasfrei und fast ohne Verzug von Halle zu Halle.

Was ist die Rolle des Autos in der Gesellschaft von morgen? Das ist die Frage, der Japans Automobil-Industrie nachgeht bei ihrer Motor-Show, die am Donnerstag begonnen hat und bis 4. November läuft. Natürlich gibt es auch gewöhnliche Neuheiten zu sehen, Wagen mit Lenkrad und Verbrennungsmotoren. Aber es geht um mehr, als nur darum, neue Modelle vorzustellen. Die Messe wirkt teilweise wie das öffentliche Versuchslabor einer neuen Beweglichkeit. Man kann der japanischen Autoindustrie dabei zusehen, wie sie über das Auto als Möglichkeitsraum nachdenkt und weiterentwickelt, was noch gar nicht richtig angekommen ist in der realen Welt. E-Mobilität, autonomes Fahren. Man hört das futuristische Klimpern hyperintelligenter Bordcomputer. Man sieht, wie in großen Animationen Elektro-Fahrzeuge von Datenwolken begleitet durch begrünte Stadtwelten gleiten. Und man fragt sich: Wird sich die Welt so mitverändern, dass diese Zukunft wirklich beginnen kann?

Es ist die 46. Auflage der Tokyo Motor Show, alle zwei Jahre findet sie statt und sie verzeichnete zuletzt zurückgehende Besucherzahlen. Aber noch ist sie da und soll jetzt die Bühne eines neu erwachten japanischen Erfindergeistes sein. Die Forderung nach nachhaltiger Fortbewegung sieht Japans Autoindustrie als ihre Chance. Die Welt soll wieder staunen über den Hightech-Inselstaat. "Open Future" ist der Titel der Motor Show 2019, angekündigt wurde sie unter anderem mit dem Satz: "Sie werden die Zukunft Japans erleben."

"In der Zukunft wird die E-Palette ein Büro sein können, ein Laden oder sogar ein Hotel"

Future sells. Jeder möchte doch gerne den Vorhang der Zeit ein bisschen zu Seite schieben und hineinschauen in das, was kommt. Aus Sicht der japanischen Autoindustrie kommt eine Zeit, in der das Auto zum selbsttätigen, flexiblen Gefährten einer Freiheit und Umwelt liebenden Wohlstandsgesellschaft wird. Die Zukunftsexpo strahlt diese Botschaft aus: Panasonic stellt dort das Modell eines autonom fahrenden Wagens vor, der von außen wie ein Auto aussieht, innen aber ein beliebig einzurichtender Raum ist. "Wohnzimmer werden mobil", steht auf einer Tafel daneben. NEC zeigt eine Propellerkonstruktion, die bis 2030 den Traum vom fliegenden Auto wahrmachen soll. Und auf einem Bett aus Sägespänen steht ein Wagen, der mit seinem flachen Chassis wie die Fantasie eines Tempofanatikers aussieht. Tatsächlich ist er die Vision eines ultraleichten Bio-Autos. Ein Wissenschaftler-Konsortium hat ihn im Auftrag des japanischen Umweltministeriums mit Biomasse-Nanofasern gebaut.

Aber die Zukunft soll nicht erst in ein paar Jahren beginnen. Mit ihren Premieren zeigen Japans Autofirmen, dass ihre nächsten serienreifen Modelle eine neue Freude am Fahren bedienen sollen. Nissan zum Beispiel stellt seinen Ariya vor, der SUV-Freunden den Übergang zu grüneren Zeiten schmackhaft machen soll mit Elektro-Allradantrieb, lounge-artigem Inneren und einer digitalen Fahrerassistenz, die das Auto im Einklang mit dem Smartphone zum rollenden Manager macht.

Oder Suzuki: Waku Waku steht für das neueste Konzept, ein japanischer Ausdruck, der ein gleitendes Wohlgefühl bezeichnet. Und dazu gehört der Hanare, die Kreuzung aus autonomem Elektroauto und Hütte. In seinem Inneren ist nichts außer zwei gegenüberliegenden Sitzreihen und ein großer Bildschirm. Der Hanare hat kein Lenkrad, er hat auch kein Hinten und kein Vorne. Dafür hat er eine ziemlich smarte Software: Wenn er eines Tages auf die Straße kommt, kann sein Besitzer eine Fahrradtour machen und sich später von seinem Hanare abholen lassen.

Und Japans Branchenführer Toyota stellt auf seiner Hauptbühne gar kein einzelnes neues Auto mehr vor, sondern seine E-Palette, die nächstes Jahr bei den Olympischen Paralympischen Spielen in Tokio zu erleben sein soll. Es handelt sich dabei um ein System aus autonom fahrenden Räumen, die Menschen beliebig für verschiedene Bedürfnisse abrufen können. "In der Zukunft wird die E-Palette ein Büro sein können, ein Laden oder sogar ein Hotel", sagt Toyota-Chef Akio Toyoda. Der Toyota-Stand ist als "Zukunftsspielplatz" angelegt, in bunten Animationen lebt die Fantasie einer vernetzten Stadtgesellschaft, in der sogar Umkleiden mobil sind.

Es sieht schön aus, wie die autonomen Gefährte auf der Leinwand leise und zuverlässig ihre Bahnen ziehen. Fast wie eine ideale Welt und nicht einmal so verrückt, als dass man daran nicht glauben könnte. Allerdings wird diese schöne neue Welt sicher sehr viele Steckdosen brauchen.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2019/cku
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