Süddeutsche Zeitung

Werkstatt Demokratie:"Wir brauchen kein Tempolimit, sondern besser fließenden Verkehr"

Im SZ-Format "Pingpong der Positionen" argumentiert SZ-Leser Oliver Niebling gegen die Tempolimit-Forderung unserer Autorin. Die Diskussion sei "fern jeder Realität".

Von Oliver Niebling und Christina Kunkel

Muss für den Klimaschutz auch ein Tempolimit her? Im SZ-Format "Pingpong der Positionen", in dem Redakteure und Leser ihre Argumente austauschen, hat unsere Autorin Christina Kunkel dafür geworben. Unser Leser Oliver Niebling aus Riederich im Landkreis Reutlingen kontert, dass es das aufgrund von Stau und Baustellen gefühlt schon überall gebe. Für den Verkehrsfluss wäre eine Geschwindigkeitsbegrenzung ein Gewinn, hält die SZ-Autorin erneut dagegen.

Das letzte Wort bei diesem "Pingpong der Positionen" hat dann - wenn er will - unser Leser. Das Format ist Teil des SZ-Diskurs-Projekts Werkstatt Demokratie. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Die Gegenrede unseres Lesers zum Kommentar von Christina Kunkel

Die Diskussionen über ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist doch fern jeder Realität und wird nur von Leuten angeregt, die so gut wie nie auf Autobahnen unterwegs sind.

Als Vielfahrer auf Autobahnen wäre ich froh, wenn ich 120km/h fahren könnte, doch das ist zu normalen Zeiten überhaupt nicht mehr möglich. Ein Durchschnittstempo von 80 bis 90km/h ist eher die Regel als die Ausnahme.

Gefühlt haben wir in Baden-Württemberg eh schon überall ein Tempolimit und alle paar Kilometer eine Baustelle mit Tempo 60 bis 80. Kommt dann wirklich mal ein unlimitiertes Stück, lebt der Deutsche sofort sein Recht auf "freie Bahn für freie Bürger" aus und blockiert selbst mit einem Kleinstwagen oder Transporter die linke Spur, so dass auch dann nicht schneller gefahren werden kann.

Und mal ehrlich, wenn nachts zwischen 2 und 4 Uhr der Verkehr nachlässt und ein paar wenige dann schneller unterwegs sind, dann schadet dies unserem Klima weitaus weniger, als die ständige Stausteherei. Hier werden Millionen von Litern Sprit jeden Tag unnötig verbrannt, vom volkswirtschaftlichen Schaden ganz zu schweigen.

Wenn sich unsere tollen Politiker nicht in klimatisierten Luxuslimousinen mit Chauffeur und Personenschutz mit Blaulicht auf dem Standstreifen fortbewegen würden, sondern wie viele normale Berufstätige jeden Tag die Autobahn nutzen müssten, mache ich jede Wette, hätten wir durchweg 8-spurige Autobahnen und die unzähligen Baustellen wären in einem Bruchteil der Zeit fertiggestellt.

"Eine verpennte Infrastrukturpolitik"

Untragbar sind für mich die vielen Egoisten auf unseren Straßen, welche die Straßenverkehrsordnung nur als Empfehlung ansehen. Die in jedem kleinen Stau pausenlos die Fahrspur wechseln und dadurch nur unnötige Bremsmanöver und noch mehr Stau produzieren. Die beim Enden von Fahrstreifen schon beim allerersten Schild nach rechts drücken und den Stau dadurch künstlich verlängern. Die bei einer Stauauflösung schlafen und erstmal weiter schleichen und den nachfolgenden Verkehr aufhalten. Die unbedingt überholen müssen, auch wenn sie nur 10km/h schneller fahren als das zu überholende Fahrzeug. Hinzu kommt eine verpennte Infrastrukturpolitik, die aus der Unfähigkeit unserer Politiker mit ihren Expertenstäben sowie den Städte- und Straßenplanern stammt.

Also mal vom Elfenbeinturm heruntersteigen und die Realität erleben. Wir brauchen kein Tempolimit, sondern generell weniger und besser fließenden Verkehr auf unseren Straßen durch zügigere Abarbeitung von Baustellen, Fahrgemeinschaften, Ausbau des ÖPNV, Einhaltung des Rechtsfahrgebots, Fracht von der Straße auf die Schiene, Homeoffice-Arbeitsplätze, flexiblere Arbeitszeitmodelle, und, und, und. In Zeiten von "Fridays for Future" und Klimawandel ist es natürlich bequemer und vermutlich auch populärer, einfach ein paar Tempolimit-Schilder aufzustellen, als sich diesen Problemen nachhaltig zu stellen und die Ursachen zu bekämpfen.

Eins ist jedenfalls sicher: Bei der in Deutschland vorherrschenden Verkehrsdichte wird durch ein generelles Tempolimit kein einziges Gramm CO₂ eingespart.

Meine persönliche Empfehlung an Frau Kunkel, Herrn Özdemir und alle anderen Tempolimit-Befürworter: Setzen Sie sich nächsten Montag oder Freitag mal in Ihr Auto und fahren Sie von Stuttgart nach Hamburg und wieder zurück. Starten Sie morgens um 7 Uhr. Schreiben Sie mir, wie Sie vorangekommen sind und wie schnell Sie fahren konnten. Wenn Sie nach dieser Erfahrung immer noch der Meinung sind, dass wir unbedingt und vorrangig ein Tempolimit in Deutschland brauchen, entschuldige ich mich in aller Form für meinen Beitrag und räume ein, dass ich mich geirrt habe.

Oliver Niebling

Die Antwort auf die Leserzuschrift: Ein Tempolimit sorgt für einen harmonischeren Verkehrsfluss

Sehr geehrter Herr Niebling,

auch wenn Sie als beruflicher Vielfahrer oft erleben, dass es auf den Autobahnen meist nur schleppend voran geht: Tatsächlich gibt es aktuell auf rund zwei Dritteln der deutschen Fernstrecken keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Zu Stoßzeiten mag die von Ihnen erlebte Durchschnittsgeschwindigkeit von 80 oder 90 km/h zutreffen. Zu anderen Uhrzeiten gibt es dennoch auf vielen Strecken die Möglichkeit, schneller als 130 zu fahren. Sie reden ja selbst von Uhrzeiten zwischen 2 und 4 Uhr morgens.

Die Berechnungen, wie viel CO₂ durch ein Tempolimit eingespart werden könnte, kalkulieren diese Umstände mit ein. Dabei ist eine Million Tonnen CO₂-Reduktion schon die Untergrenze von dem, was Berechnungen ergeben haben, andere Prognosen gehen sogar von bis zu fünf Millionen Tonnen aus. Was dazu kommt: Die Einführung eines Tempolimits würde laut Stauforschern auch dazu führen, den Verkehrsfluss zu verbessern. Abrupte Bremsmanöver kommen oft bei sehr hohen Geschwindigkeitsunterschieden zustande, zum Beispiel bei unbedachten Spurwechseln. Das löst dann eine Kettenreaktion aus, die den Verkehr auf mehreren Kilometern zum Stocken bringen kann. Wenn die Geschwindigkeitsunterschiede nicht mehr wie aktuell bis zu 150 km/h betragen, sondern nur noch etwa 30 Stundenkilometer, wird der Verkehrsfluss harmonischer.

Tempolimit ist positiv für die Verkehrssicherheit

Man erlebt das auch jetzt schon zum Beispiel in Österreich, wo auf der rechten Spur die Lastwagen unterwegs sind und links die Autos überholen. Bei höchstens 130 km/h braucht auch niemand mehr Angst haben, dass von hinten ein Wagen mit 200 Sachen angerast kommt. Dass ein Tempolimit auch positive Effekte für die Verkehrssicherheit hat, zeigen zudem mehrere Untersuchungen, bei denen die Unfallzahlen auf bestimmte Streckenabschnitten verglichen wurden, bevor und nachdem dort ein Tempolimit eingeführt wurde. In allen Fällen gab es nach der Begrenzung weniger Tote und Verletzte. Dazu muss man sich nur vor Augen führen, dass der Bremsweg bei 200 km/h mehr als doppelt so lang ist wie bei 130 km/h.

Natürlich sind unsere Autobahnen jetzt schon sehr sicher, aber sie könnten mit einem Tempolimit noch sicherer werden. Aber es ist auch nur eine Maßnahme von vielen, die für den Klimaschutz nötig sind, wie Sie richtigerweise schreiben. Warum sollte man nicht alles tun: ÖPNV ausbauen, mehr Home office, Fracht von der Straße auf die Schiene verlagern - UND ein Tempolimit einführen? Alle einzelnen Maßnahmen zusammen machen aus kleinen Mosaiksteinchen ein großes Puzzle. Es gibt keinen rationalen Grund, in diesem Punkt alles beim Alten zu belassen.

Christina Kunkel

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URL:
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Quelle:
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