Taxi in Istanbul:Vollgas

Nirgendwo gibt es so viele Unversitätsprofessorinnen wie in Istanbul. Aber unter rund 35.000 Taxifahrern befinden sich gerademal zehn Frauen. Sirin ist eine von ihnen.

Kai Strittmatter

Heute morgen wieder. Dunkel war es noch. Winkt einer am Straßenrand, steigt hinten ein, sagt: "Guten Tag, mein Herr". Sirin erwidert den Gruß: "Guten Morgen". Jetzt stutzt der Gast, blickt verdutzt in den Rückspiegel, wo Sirins breites Lächeln ihn erwartet. "Allah Allah! Um Himmels willen", entfährt es ihm. Eine Frau. Auf dem Fahrersitz. Dann fasst er sich, räuspert sich kurz: "Verzeihen Sie. Es ist nur so . . . ungewohnt." Es gab auch schon welche, die haben die Türe von außen wieder zugeschlagen, als sie Sirin am Steuerrad sahen: einmal ein alter Mann, einmal zwei Frauen mit Kopftuch. Drei Leute in neun Jahren. Nicht viel. Dafür gibt es die anderen. Männer, fast täglich, die sie staunend einen "Teufelskerl" nennen und Frauen, die erleichtert aufseufzen: "Ach wie gut, eine Frau. Sie fluchen wenigstens nicht."

Taxi in Istanbul: "Allah Allah, um Himmels willen": Nicht alle Fahrgäste sind begeistert, dass Sirin am Steuer sitzt.

"Allah Allah, um Himmels willen": Nicht alle Fahrgäste sind begeistert, dass Sirin am Steuer sitzt.

(Foto: Foto: Agata Skowronek)

Nein, die Fahrgäste waren nicht das Problem, als Sirin sich vor neun Jahren in den Kopf gesetzt hatte, Taxifahrerin zu werden. Die Kollegen schon gar nicht. Auch nicht der Ehemann. Der Bruder war es, der ihr anfangs die Hölle heiß machte. "Wir kommen aus dem Osten, weißt du." Eine Frau, sagte der Bruder, tut das nicht. Eine Frau fährt nicht allein durch die Stadt. Nachts. Mit Männern auf dem Rücksitz. Eine Frau, die das tut, die ist eine Schande für die Familie. Denk an unsere Ehre, Sirin, sagte der Bruder. "Also gut, hab ich gesagt", erzählt Sirin, "dann bin ich trotzdem gefahren. Heimlich." Weil sie keinen anderen Ausweg sah. Und weil es ihr Mordsspaß machte.

Autos liebt Sirin schon seit sie ein Kind ist. "Ich bin verrückt nach Autos, seit ich denken kann. Woher das kommt? Keine Ahnung." Sie war 19, als sie mit ihrem Mann 1986 nach Istanbul zog. Wie hunderttausend andere Anatolier: auf der Suche nach Brot, nach einem Stück vom Leben. "Wir haben uns so geschämt am Anfang, weil wir bloß Kurdisch sprachen und nur ein paar Brocken Türkisch, wir haben uns nicht einmal zum Krämer getraut."

Sirin arbeitete bei einer Hühnermast, später bei einer Versicherung. 1996 erfüllten sie sich ihren Traum: ein eigenes Auto, ein alter Dogan. "Ich setzte mich gleich rein und fuhr los." Den Führerschein machte sie ein Jahr später. Dann wurde ihr Mann krank. Das Geld reichte nicht mehr. Sirin sucht einen zweiten Job. Ein Freund kam mit dem Taxi.

Eigentlich ist die Türkei ein vorbildliches Land

In den neun Jahren, die sie am Steuer sitzt, ist Sirin noch keine zweite Frau begegnet, die ein Taxi fährt. Ist Sirin die einzige Taxifahrerin Istanbuls? Nein. Aber fast. Wie viele gibt es in der Stadt? "Keine zehn", so die Taxiberufsgenossenschaft. Weniger als zehn Frauen unter mehr als 35.000 Taxifahrern. Die Türkei ist ein widersprüchliches Land. Nirgendwo in Europa sieht man so viele Frauen in leitenden Positionen in der Banken- und Finanzwelt. Und nur in wenigen Ländern gibt es so viele Universitätsprofessorinnen. Die Vorsitzende des mächtigen Industriellenverbands Tüsiad ist eine Frau. Die Frauengesetzgebung ist seit den Reformen von 2004 vorbildlich.

Gleichzeitig verraten die Statistiken noch immer Trostloses. Von 81 Großstadtbürgermeistern sind gerade mal zwei Frauen. Von 900 Distriktvorstehern gerade mal 15. Auf der Liste, mit der das Weltwirtschaftsforum die Kluft zwischen den Geschlechtern misst, steht die Türkei auf Platz 123 von 130 Ländern - hinter Syrien und Iran. Der Grund: Frauen nehmen zu wenig teil am Arbeitsleben.

"Türkische Männer", sagt Sirin: "halten einfach keine erfolgreiche Frau neben sich aus." Sie macht eine Pause. "Aber es ist schon viel besser als früher. Es hängt von uns Frauen ab. Wir müssen um unsere Rechte kämpfen." Ihren Bruder hat sie mittlerweile auf ihrer Seite: "Er zollt mir Respekt." Auch ihre Kollegen scheinen kein Hindernis zu sein: "Frauen sind bestimmt gute Taxifahrer", meint Fahrer Ahmet Özal. "Wir müssen ja oft Psychologen sein bei unseren Kunden. Das können Frauen sowieso besser."

Und Semih Kacanoglu, der Vorsitzende der Berufsgenossenschaft, kann sich kaum bremsen in seinem Enthusiasmus: "Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Frauen unseren Beruf ergreifen", sagt er. "Vor allem junge, schöne Frauen, jetzt, wo Istanbul 2010 Kulturhauptstadt Europas wird. Mindestens 100 Taxifahrerinnen sollten wir haben, um Europa willkommen zu heißen."

Die Fahrerei ist nicht nur Spaß

Eine junge Schöne tut schon Dienst in einer Fernsehserie über den "Taxistand Akasya" auf Kanal D. "Ich finde, die übertreibt manchmal", sagt Sirin über ihr Alter Ego, "Sie benimmt sich gar nicht wie eine Dame." Kurz zuvor hatte Sirin erzählt, wie sie ihren Kollegen vom Taxistand schon mal Prügel androht, wenn die nicht endlich vorüberlaufende Mädchen in Ruhe lassen ("Unser Männervolk braucht noch viel Erziehung!"). Aber, versichert sie, das Verhältnis sei herzlich. "Meine Kollegen passen gut auf mich auf. Wenn ich auch nur zehn Minuten zu spät bin, telefonieren sie hinter mir her."

Nein, die Fahrerei ist nicht nur Spaß, sie ist vor allem bittere Notwendigkeit. Bis 17 Uhr arbeitet Sirin im Büro der Versicherung. Danach setzt sie sich ins Taxi. Fährt bis zwei Uhr morgens. Fährt sieben Tage die Woche. "Was soll ich machen? Die Miete, das Brot, die Kinder." Der Ehemann ist arbeitsunfähig. Die Mutter ein Pflegefall. Ein Sohn bei der Armee, die beiden anderen Kinder noch in der Schule. Ihr Lohn bei der Versicherung geht fast komplett für die Miete drauf.

Das Schönste für sie, sagt sie einmal, sei ein gemeinsames Frühstück mit den Kindern. Sie kann sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal geklappt hat. An vielen Tagen falle sie wie tot ins Bett. Dann wieder lacht sie, ruft: "Ich liebe diese Schaltung. Keine Automatik!" Und erzählt von dem Juristen, den sie neulich fuhr: "Schwester", habe der zu ihr gesagt: "Wir sollten dich zur Mutter des Jahres wählen. Du arbeitest, du kämpfst wie ein Mann." Sirin strahlt. "Ich wünschte mir", sagt sie, "ich hätte eine versteckte Kamera und könnte all das aufzeichnen, was die Leute zu mir sagen. Du würdest staunen. Ehrlich."

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