SZ Verkehrsforum:Der Fahrer ist das schwächste Glied

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Sicherheitsysteme im Auto erkennen schon heute Fußgänger und bremsen selbständig. (Foto: Continental)

Im vergangenen Jahr starben 3338 Menschen auf deutschen Straßen. Das sind immer noch zu viele. Was können Assistenzsysteme leisten, um die Zahl der Verkehrsopfer weiter zu senken? Eine Expertenrunde auf der Suche nach Antworten.

Von Gernot Sittner

"Keiner kommt um, alle kommen an" - auf dem Weg zu diesem Ziel haben Deutschlands Autofahrer schon eine gehörige Strecke hinter sich gebracht. Starben Anfang der Siebzigerjahre noch mehr als 20 000 Menschen jährlich auf deutschen Straßen, waren es im vergangenen Jahr nur 3338. Aber weil 3338 immer noch 3338 zu viel sind, will der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) sein ehrgeiziges Projekt "Vision Zero" nicht in den Bereich der schönen Utopie abschieben. Warum auch? Weder befinden sich Deutschlands Straßen in einem Zustand, der jedes Unfallrisiko minimieren würde, noch zeichnen sich die Benützer dieser sanierungsbedürftigen Verkehrsinfrastruktur durch ein besonderes Maß an Disziplin und Rücksicht aus. Da wäre es mehr als frivol, sich damit abzufinden, dass auf deutschen Straßen weiter gestorben wird.

Die Auto Mobil International (AMI) in Leipzig, eine Messe, auf der sich die Sachsen auch in diesem Jahr wieder vom Auto und dem vielen Zubehör faszinieren ließen, bot für den DVR, das Verkehrsparlament der Süddeutschen Zeitung, den TÜV Süd, den Verband Internationaler Kraftfahrzeughersteller (VDIK) und die Verkehrswacht Sachsen das geeignete Forum, der Frage nachzugehen, ob und wie Fahrerassistenzsysteme dazu beitragen können, sich "Vision Zero" weiter zu nähern.

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Fahrerassistenzsysteme tragen zu mehr Verkehrssicherheit bei

Mit Zahlen lässt sich die Antwort darauf nicht so leicht unterfüttern. Studien haben immerhin ergeben, dass bis zu einem Drittel der schweren Unfälle durch geeignete Fahrerassistenzsysteme vermieden werden könnten. Und in Leipzig kamen die Experten auch schnell überein: Fahrerassistenzsysteme tragen zu mehr Verkehrssicherheit bei. Nicht nur das. In einem Feldversuch, der europaweit über mehrere Monate lief, stellte sich heraus: Autofahrer, die über einen Abstandsregler (ACC) in ihrem Wagen verfügten (und ihn auch eingeschaltet hatten), verbrauchten zehn Prozent weniger Sprit, waren mit etwas höherer Durchschnittsgeschwindigkeit unterwegs, mussten deutlich weniger bremsen und seltener stärker aufs Gas treten als die Testfahrer ohne Assistenzsysteme.

Die Experten auf dem Leipziger Forum äußerten starke Zweifel, dass solche Ergebnisse der Mehrheit der deutschen Autofahrer vertraut sind. ABS, ESP, ACC, ASR und ähnliche Kürzel sind für viele von ihnen böhmische Dörfer, sogar dann, wenn ihr eigenes Auto darüber verfügt. Wer heute den Führerschein erwerben will, kann, ja soll sich - so berichtete Andreas Grünewald, der Vorsitzende des Sächsischen Fahrlehrerverbandes, auf dem Forum - beim Fahrtraining aller Assistenzsysteme im Fahrzeug bedienen, auch bei der Prüfung. Wenn es dann an den Autokauf geht, steht der Anfänger allerdings ohne Assistenz, ohne Fahrlehrer, alleine und oft ratlos da. Gerade dann sei aber heute viel Aufklärung geboten - darüber, was Assistenzsysteme leisten, wie man mit ihnen umgeht und was man von ihnen nicht erwarten darf.

Immer noch reagieren, zum Beispiel, viele Autofahrer irritiert, wenn sie bei einer Vollbremsung die Unterstützung des seit Jahren verbreiteten Antiblockiersystems (ABS) brauchen. Das vibrierende Bremspedal lässt sie an das Schlimmste denken; andere meinen, wenn das ABS ausgelöst wird, werde das Lenken überflüssig. Nur wenn der Autofahrer wenigstens in etwa weiß, wie jedes einzelne System funktioniert, hat er einen Nutzen davon, kann aber auch dessen Grenzen einschätzen. Der Autoverkäufer sei da nicht der geeignete Informant, meinte das Forum; er will Fahrgenuss in Aussicht stellen und nicht mit der Garantie trumpfen, dass der Notbremsassistent (ABA) vor einem tödlichen Unfall bewahren wird. "Dem Kunden wird beim Autokauf das Gefühl vermittelt: Du fährst sicher und bequem", sagte Welf Stankowitz vom DVR. "Die Verkehrssicherheit steht beim Autokauf weit oben, aber sie soll nicht weiter thematisiert werden." Und Fahrlehrer Grünewald bekräftigt: "Kenntnisse über den Nutzen der Assistenzsysteme sind oft nicht vorhanden. Wir Fahrlehrer sollten das vielleicht leisten." Er denkt an ein Angebot nicht während der eigentlichen Fahrausbildung, sondern in der ersten Zeit nach einem Autokauf.

Vision Zero: Sicherheitsgurt und Airbag markieren als passive Sicherheitsmaßnahmen wichtige Etappen auf dem Weg zu diesem Ziel. Wie weit Fahrerassistenzsysteme als aktive Hilfe die Unfallgefahr reduzieren, lässt sich heute noch nicht genauer definieren, zumal die Entwicklung der Systeme keineswegs abgeschlossen ist. Tobias Ruttke vom Lehrstuhl für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie der Universität Jena warnte davor, sich zu sehr auf die technische Seite zu konzentrieren. "Es wird gefragt: Was können wir noch machen? Was ist technisch noch möglich?" Im Zentrum müsse aber der - fehlbare - Autofahrer stehen: Wie kann ein Assistenzsystem das Fahren noch sicherer machen, ohne dass es, einerseits, den Fahrer überfordert oder ihn, andererseits, in Versuchung führt, sich leichter ablenken zu lassen?

Jedes System muss sich vom Fahrer außer Kraft setzen lassen

Darüber war sich das Forum in Leipzig einig: Wie ausgeklügelt und raffiniert die Fahrerassistenzsysteme der Zukunft auch sein mögen: Jedes System muss sich vom Fahrer übersteuern, also außer Kraft setzen lassen. Die Hoheit im Auto bleibt beim Fahrer - und damit auch die Verantwortung. Das ideale System - eine weitere Vision - sollte imstande sein, den Fahrer zu trainieren, ihn auf Fehler, die ihm immer wieder unterlaufen, aufmerksam zu machen - auf pädagogisch geschickte Art selbstverständlich, damit er nicht genervt oder beleidigt sein System abschaltet.

Wenn Euro NCAP (European New Car Assessment Programme) heute die Sicherheit eines neuen Autotyps bewertet und ihn mit maximal fünf Sternen auszeichnet, hängt das Urteil unter anderem davon ab, ob das Fahrzeug über elektronische Fahrdynamikregelung (ESC), über eine Anlage, welche die Geschwindigkeit begrenzt, und eine Warnung bei nicht angelegtem Sicherheitsgurt verfügt. Bei diesem Status quo wird es nicht bleiben. Harald Barth, Produktmanager des Assistenzsystems Valeo, kündigte in Leipzig an, künftig werde ein neuer Fahrzeugtyp nur dann mit der Bestnote ausgezeichnet, wenn er weitere Assistenzsysteme an Bord hat. Und die Latte der Bewertung werde von Mal zu Mal höher gelegt - je nach Stand der Entwicklung. Vielleicht wird dann, noch vor Vision Zero, eine andere, in Leipzig entworfene Vision Wirklichkeit: Die Versicherungstarife sinken, weil es auf deutschen Straßen nicht mehr so oft kracht.

© SZ vom 07.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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