SZ-Serie: "Radl-Metropolen":Das Recht des Stärkeren

SZ-Serie: "Radl-Metropolen": Radler drehen in der Warschauer Innenstadt ein paar Runden. Die meisten Polen nutzen Fahrräder fast nur in ihrer Freizeit.

Radler drehen in der Warschauer Innenstadt ein paar Runden. Die meisten Polen nutzen Fahrräder fast nur in ihrer Freizeit.

(Foto: Imago)

In Polen haben die Politiker meist die Autofahrer im Blick. Das macht das Leben für die Radfahrer nicht einfacher.

Von Florian Hassel

Es war am letzten Tag seines Sommerurlaubs, als Warschaus Vize-Bürgermeister Michał Olszewski sich davon überzeugen konnte, dass Radfahren in Polen nicht ungefährlich ist. Olszewski wurde von einem Autofahrer umgemäht - und wegen einer Wirbelsäulenverletzung für mehrere Wochen in den Krankenstand geschickt.

Gewiss, Radfahren ist auch in Polen im Aufwind - vor allem als Freizeitsport. Doch wer das Zweirad als tägliches Fortbewegungsmittel nutzt, braucht in vielen polnischen Städten starke Nerven. Das gilt auch in der Hauptstadt Warschau, einem Spitzenreiter der Fahrradbewegung in Polen. Zwar rühmt sich Warschau 544 Kilometer Fahrradwege und erweitert sein Netz stets, meist finanziert mit Fördermillionen der EU. Die Fahrradnutzung steige jährlich um ein Fünftel, zog Lukasz Puchalski, der Leiter des Warschauer Straßenamtes, im Mai Bilanz. Doch die Statistik ist nur die halbe Wahrheit in der Flächenstadt Warschau, die über Jahrzehnte vor allem auf Autoverkehr ausgelegt wurde.

Immer noch fehlen Radwege an vielen Stellen völlig. Und wo es sie gibt, folgen sie mitunter abenteuerlichen Verläufen. Auf der Puławska-Straße zum Beispiel, einer kilometerlangen Nord-Süd-Achse der polnischen Hauptstadt, ist der Radweg mal auf der rechten, mal auf der linken Straßenseite, manchmal endet er mitten auf einem Bürgersteig oder führt zurück auf die dreispurige Autofahrbahn. Will der Radler weiter ins Zentrum, muss er sich auf der Puławska inmitten des Autoinfernos über teils riesige Kreuzungen von amerikanischem Format schlängeln.

Hinzu kommt: Gibt es Radwege - oder notgedrungen als solche genutzte Bürgersteige - sind sie oft zugeparkt. Erstaunt stellte eine Zürcher Beamtin kürzlich fest, in Warschau würden Autofahrer immer noch "wie die Könige behandelt" und dürften parken, wo sie wollten. In Zürich kassiere ein auf Radweg oder Bürgersteig parkender Autofahrer alle paar Stunden einen neuen Strafzettel und könne innerhalb nur eines Tages Strafen von 500 Schweizer Franken einsammeln. In Warschau kostet Falschparken, wenn sich überhaupt einmal ein Polizist dafür interessiert, nur 50 Złoty, umgerechnet nur gut zehn Euro.

Auch die Verkehrsregeln waren früher wenig Radler-freundlich: Autos hatten beim Abbiegen prinzipiell Vorfahrt und mussten entgegen internationaler Gepflogenheiten auch nicht auf Radfahrer achten. Die genossen zudem nicht einmal einen anderswo übliche Vorteil des Zweirades: Alkoholgenuss am Radlenker wurde genauso hart bestraft wie am Autosteuer. 2011 und 2013 wurden die entsprechenden Gesetze geändert, doch viele Warschauer Autofahrer fahren weiter nach dem Prinzip quasi gottgegebener Vorfahrt.

Wer sich als Radfahrer auf die Straße wagt, braucht auch deshalb Mut, weil etliche Warschauer Autofahrer Tempo 50 höchstens bei der Führerscheinprüfung beachten und ansonsten dem Ideal "städtischer Rennsport" folgen. Das bleibt für sie meist folgenlos, weil es in Warschau kaum Überwachungskameras oder Polizeistreifen gibt, die Raser rausziehen und empfindlich abstrafen würden. Tödliche Unfälle sind nicht selten: Zuletzt starb Ende Juli der Jazz-Schlagzeuger Grzegorz Grzyb, als er auf der stark befahrenen Modlińska-Straße im Osten Warschaus die Spur wechseln wollte und von einem jungen BMW-Fahrer angefahren wurde.

Trotz aller Mängel hat sich Warschau bereits geändert. Einen großen Anteil daran haben die Leihfahrräder von Veturilo, einer Tochter der deutschen Firma Nextbike. Die Veturilo-Fahrräder sorgen inzwischen angeblich für jede achte Fahrradfahrt in Warschau. Das Unternehmen arbeitet mit der Warschauer Stadtverwaltung zusammen und bietet an 368 über Warschau verteilten Stationen gut 5300 Fahrräder an, zu umgerechnet ab 2,50 Euro pro Nutzung. "Ich bin kein großer Anhänger öffentlicher Fahrräder, aber ich gebe zu, dass Veturilo Warschau sehr verändert hat", sagte Marcin Hyla von der Bürgergruppe "Die Stadt den Fahrrädern" der Zeitung Gazeta Wyborcza. "Es hat Veturilo gebraucht, damit die Hauptstadt, die Geld, Kompetenz und Ambitionen hat, vom Fleck kam: Das städtische Fahrrad wurde zum ernsthaften Argument für den Bau der entsprechenden Infrastruktur."

Die lässt allerdings trotz des Ausbaus von Radwegen stark zu wünschen übrig - auch weil sich Radfahren und der öffentliche Nahverkehr schlecht kombinieren lassen. Der wurde in Warschau, erst recht aber in der Umgebung der Hauptstadt, jahrzehntelang vernachlässigt. In Warschau selbst gibt es erst seit einigen Jahren eine U-Bahn. Die aber besteht bisher aus nur zwei Linien, das Mitnehmen eines Fahrrads ist auch wegen der nicht dafür ausgelegten Infrastruktur ein Hindernisrennen, das kaum ein Radler eingeht.

Ende Oktober wählt Warschau, wie alle anderen polnischen Städte, einen neuen Stadtrat und einen neuen Bürgermeister. Ein großes Wahlkampfthema aber ist der Ausbau des Radverkehrs bislang nicht. Nur wenige polnische Politiker sind, wie Posens Bürgermeister Jacek Jaśkowiak, bekennende Fahrradfreunde und fahren mit dem Drahtesel zur Arbeit. Die meisten Politiker aber gehören Fahrradfunktionär Hyla zufolge zur Autolobby und sehen auch ihre Klientel in erster Linie als Autofahrer.

Die Statistik belegt dies. In europäischen Radfahrer-Mekkas wie Kopenhagen werden schon über 40 Prozent aller Wege per Rad zurückgelegt. In der wie Warschau gut 1,7 Millionen Einwohner zählenden Hansestadt Hamburg sind es immerhin mindestens 15 Prozent, so ein Juni vorgestellter Bericht des Bundesverkehrsministeriums. In Warschau sind die Stadtplaner schon froh, wenn sie Ende 2018 einen Anteil von sechs Prozent Fahrradfahrten am Gesamtverkehr melden können.

So ist Radfahren in Warschau ein Vergnügen, das sich viele Einwohner nur am Wochenende gönnen - als Freizeitsport in Parks oder auf sicheren Radwegen. Zudem ist der Warschauer Radler ein Schönwetterfreak: Bei Regen oder im Winter bleibt die Stadt fast fahrradfrei. Dass Radfahren für die meisten nur zur sportlichen Abwechslung taugt, belegen auch viele Warschauer Fahrradgeschäfte: Geöffnet haben sie nur von April bis September oder Oktober. Danach wird umdekoriert: In der kalten Jahreshälfte verkaufen sie Skier und Snowboards.

In dieser Serie beleuchtet die SZ in loser Folge die Situation des Radverkehrs in den großen Städten. Zuletzt erschienen: Moskau (25.8.), Tokio (1.9.), Rio de Janeiro (8.9.), Zürich (15.9.). Alle Folgen im Internet unter www.sueddeutsche.de/stadtradler

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