SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Tokios Nahverkehr funktioniert nur mit viel Disziplin

SZ-Serie Nahverkehr weltweit: Im Zug herrscht Gedränge, auf dem Bahnsteig dagegen absolute Ordnung. Die Mitarbeiter, die die Passagiere in die Züge schieben, nennt man Pusher.

Im Zug herrscht Gedränge, auf dem Bahnsteig dagegen absolute Ordnung. Die Mitarbeiter, die die Passagiere in die Züge schieben, nennt man Pusher.

(Foto: Toru Yamanaka/AFP)

Tokio hat das größte und eines der besten Nahverkehrssysteme der Welt. Ein skurriler Mikrokosmos, in dem Frauen und Alten keine Sitzplätze angeboten werden - dem Chef aber schon.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Spät an einem Freitagabend hält die prallvolle S-Bahn der Inokashira-Linie an der Haltestelle Komaba-Todaimae etwas zu lange. Die Ausgestiegenen sind schon weg, in den Türen stehen Fahrgäste mit dem Rücken nach Innen gerichtet. Sie drücken sich gegen die Menschen-Sardinen, um nicht von der Tür erfasst zu werden, wenn sie endlich schließt. Es ist still, wie fast immer in Tokios U- und S-Bahn-Zügen. Manche Leute dösen. Oder tun so, vor allem die jungen Männer, die auf den Plätzen für Alte, Schwangere und Behinderte sitzen. Körper pressen gegen Körper, aber die meisten ignorieren das. Viele sind per Kopfhörer in einer völlig anderen Welt, wer seine Hände freibekommt, tippt auf dem Smartphone herum. Plötzlich rennt eine Kakerlake über den Bahnsteig auf die Zugtür zu, als wolle sie noch mit. Auch sie wird ignoriert. Zu fressen dürfte sie auf diesem Bahnsteig nichts gefunden haben. Denn der ist ähnlich sauber wie die meisten anderen der Tokioter Bahnen.

Der Großraum Tokio, mit 35 Millionen Einwohnern die größte Agglomeration der Welt, wird von 158 U- und S-Bahn-Linien mit mehr als 4700 Streckenkilometern und 2200 Stationen verbunden. Es ist das umfangreichste Nahverkehrsnetz der Welt; und es befördert - die Fernzüge nicht mitgerechnet - täglich 40 Millionen Passagiere. Im Berufsverkehr am Morgen und gegen Mitternacht in manchen Züge mit 200 Prozent Auslastung. Die Leute stoßen, pressen, wer aussteigen will, zwängt sich wortlos durch die Masse. Die Geschubsten ignorieren auch das, sie wissen, es geht kaum anders.

Wird ein Sitz frei, balgen sich vor allem die Anzugträger stumm um sie. Kaum einem japanischen Mann fiele es ein, einer Frau, auch einer älteren, seinen Sitz anzubieten. Dem Chef, sollte er mitfahren, dagegen unbedingt. Die Yamanote-Ringlinie führt zu Spitzenzeiten alle 90 Sekunden einen Zug. Auf manchen Stationen helfen sogenannte Pusher, die Passagiere in den Wagen zu drücken, damit die Türen schließen können.

Die meisten Tokioter fahren mit der Bahn zur Arbeit, und viele zuvor mit dem Fahrrad zu ihrem Bahnhof. Die Buslinien, die die Feinverästelung besorgen, gelten als zu langsam. Mit dem Auto pendeln nur Privilegierte, es gibt kaum Parkplätze, und die Maut für die Stadtautobahn ist teuer. Normale Arbeitnehmer hätten auch gar nicht die Zeit, die man jeden Tag im Stau verliert. Die Bahn ist schneller. Und der Arbeitgeber zahlt die Fahrtkosten.

Engmaschig und effizient

Tokios Nahverkehrs-Bahnnetz ist engmaschig und effizient, die Züge sind pünktlich - die einzige regelmäßige Verspätungsursache sind die Selbstmorde, von denen es auf dem weiten Netz allerdings beinahe täglich einen gibt. Es gibt immer mehr durchgehende Züge, die von einer Vorortsbahn ins U-Bahn-Netz einfahren und auf der anderen Seite der Stadt als Zug einer andern Linie weiterverkehren. Und mit Suica und Pasmo ist auch das Umsteigen einfach geworden.

Suica und Pasmo - das sind kreditkartengroße, wiederaufladbare Zahlkarten, die man nur über die Ticket-Schranke hält, ohne Berührung bucht der Sensor den Fahrpreis ab. Auch die Monatskarten für den Arbeitsweg werden auf diese Karten geladen. Sucia ist die Karte von Japan Rail, der ehemaligen Staatsbahn; Pasmo jene der zwei U-Bahn-Unternehmen und der Privatbahnen.

An der Station Shinjuku verirren sich selbst Japaner

Das Tokioter Nahverkehrsnetz wird von 48 verschiedenen Firmen betrieben. Doch sie haben erreicht, dass beide Karten überall funktionieren. Seither merkt man kaum mehr, wenn man von einem Netz auf das nächste wechselt. Umso absurder ist es, dass in vielen Linienplänen noch immer nicht alle Netze eingetragen sind. Andererseits wäre ein Netzplan aller Linien verwirrend kompliziert. Allein an der Station Shinjuku, mit täglich 3,3 Millionen Ein- und Aussteigenden der verkehrsreichste Bahnhof der Welt, treffen die Linien dreier Eisenbahn- und zweier U-Bahn-Gesellschaften aufeinander. Hier verirren sich selbst Japaner gelegentlich, die in Tokio aufgewachsen sind. Zumal der Bahnhof ständig umgebaut wird.

Auch die Netze werden stetig erweitert, enger verknüpft und modernisiert. Vor neun Jahren wurde die neueste U-Bahn-Strecke eingeweiht, die Fukutoshin-Linie. Die S-Bahnen werden viergleisig ausgebaut, damit Expresszüge in die Vororte in einem dichteren Takt geführt werden können. Auch die Bahnhöfe werden neu gebaut und - erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten - auch mit Liften rollstuhlgängig gemacht.

Reibungsloser Betrieb trotz Bauarbeiten

Dort, wo es Schienenwege und Straßen noch auf gleichem Niveau verlaufen - auch mitten in der Stadt -, werden die Trassen nach und nach aufgeständert oder unter den Boden verlegt. Eine europäische Eisenbahnerdelegation, die eine Baustelle der Odakyu-Linie besuchte, wollte wissen, wie sehr der Bahnbetrieb beeinträchtigt ist. Und wie lange er unterbrochen werden müsse, wenn der bisher ebenerdige Bahnhof Shimokitazawa auf zwei Ebenen vierspurig in den Untergrund verlegt wird. Die Antwort ließ die Europäer staunen: gar nicht. Alle Bauarbeiten, die den Zugverkehr behindern, geschehen in der Nacht, wenn die Bahn nicht fährt. Kurz bevor der erste Zug am Morgen fährt, werden die Provisorien wieder installiert, die trotz der Baumaßnahmen einen reibungslosen Betrieb ermöglichen.

Japans private Bahngesellschaften können sich die hohen Investitionen für ihre Bauprojekte leisten. Sie haben früh begonnen, ihren Grundbesitz, auf dem die Bahnanlagen stehen, doppelt zu nutzen. Über den Bahnhöfen bauen sie Einkaufszentren und Bürotürme, manche Bahnunternehmen betreiben auch Supermarkt-Ketten, Immobilienfirmen oder Reisebüros. Odakyu, die Betreiberin einer S-Bahn-Linie in die westlichen Vororte mit zwei Nebenästen, verfügt über etwa hundert Tochterfirmen. Unter den neu aufgeständerten Hochbahngleisen entstehen Läden, Arztpraxen und Mietparkplätze.

Die Betrunkenen schwanken mit Würde

Bahnhöfe und Züge sind zudem blitzsauber. In fünfzehn Jahren S-und- U-Bahn-Fahren in Tokio war die Kakerlake, die in Komaba-Todaimae noch zum Zug zu rennen schien, die einzige Begegnung dieser Art. Die Leute schmeißen auch nichts auf den Boden. Liegt doch irgendwo ein Papierchen, eilt sofort jemand mit Kehrbesen oder einem langen Greifer herbei. In den Stationen gibt es auch keine Graffiti. Selbst die Erschöpften - in den Randzeiten sind viele Japaner übermüdet -, die ein kurzes Nickerchen machen wollen, versuchen, das ordentlich zu tun. Und die Betrunkenen bemühen sich, mit Würde zu schwanken.

Und anders als im Zug schubst auf den Bahnsteigen niemand; Tausende navigieren durch das Gedränge, ohne jemanden zu berühren. Sie stellen sich schweigend in die Warteschlange, die sich genau dort bildet, wo sich die Zugtür öffnet. Man spricht nicht, telefoniert nur leise. Und selbstverständlich wird auch nicht geküsst. In den Zügen ist Telefonieren sogar explizit verboten. Auf keinen Fall darf man sich schnäuzen, das gilt (überall) als unflätig. Im Winter ziehen deshalb im Zug die Leute ständig die Nase hoch; es ist oft das einzige Geräusch, das man hört. Tokio hat das größte und eines der besten Nahverkehrssysteme der Welt. Aber ohne die Disziplin der Japaner würde es nicht funktionieren.

Die SZ berichtet in dieser Serie in loser Folge über den Nahverkehr in den wichtigen Metropolen der Welt. Bisher erschienen: Zürich, Madrid und Moskau. Alle Folgen auch unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr

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