SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Singapurs ÖPNV scheitert am eigenen Perfektionismus

Metro Singapur

Ein MRT-Zug in Singapur: Der Stadtstaat hat in kurzer Zeit das Schienennetz um 30 Prozent erweitert.

(Foto: Roslan Rahman/AFP)

Sauber, pünktlich, zuverlässig: Der Nahverkehr im Stadtstaat war nah dran am Idealzustand. Jetzt häufen sich Verspätungen und Unfälle, es gibt eine wahre Pannenserie. Was ist da los?

Von Arne Perras, Singapur

Wer als Tourist nach Singapur kommt, ist schnell begeistert, mit welcher Leichtigkeit er kreuz und quer über die dicht besiedelte Insel fahren kann. Auf den Straßen gibt es höchstens kleine Staus, Taxis sind vergleichsweise günstig. Und das U-Bahnnetz erklärt sich auch dem Fremden von selbst. Von Chinatown nach Little India, vom Stadium zum Botanischen Garten, vom Wahrzeichen Marina Bay Sands zu den Shoppingmalls an der Orchard Road? Mit dem Mass Rapid Transport - kurz MRT genannt - ist das alles ein Klacks.

Ein vielreisender Neuseeländer, der in einigen Online-Portalen als "Wandering Eric" firmiert, hat das kürzlich so formuliert: "Singapurs U-Bahn ist beispielhaft dafür, wie man eine große Zahl von Menschen effizient von einem Ort zum nächsten bewegt. Supersauber und gut gewartet stellt sie die schmuddeligen U-Bahnen in den meisten europäischen Hauptstädten in den Schatten."

Keine Einzelmeinung. Aber dennoch lohnt die Frage: Läuft in Singapur wirklich alles so rund, wie es auf den ersten Blick aussieht? So berechtigt das Lob in vielerlei Hinsicht erscheint: Auch der öffentliche Nahverkehr in Singapur ist nicht frei von Schwächen. Was man schon daran erkennt, dass die Stimmen der Bürger manchmal weit weniger euphorisch klingen als Kommentare von Urlaubern und Geschäftsreisenden, die nur für kurze Zeit einfliegen.

Woran das liegt? Die aufwendige Modernisierung des Netzes verläuft eben nicht so reibungslos, wie es viele Bürger von ihrem fürsorglichen Hightech-Staat in Südostasien gewohnt sind. Und zu spüren bekommen das vor allem jene, die ständig in der Rushhour unterwegs sind. Als Tourist kann man herumfahren, wann man will, als Arbeitnehmer im Dienst eher nicht. "Wir entschuldigen uns für die verursachten Unannehmlichkeiten." Diese knarzende Lautsprecherstimme hören die Pendler seit einigen Monaten nun weitaus öfter, als ihnen lieb ist. Sie erleben Verzögerungen, Zugausfälle und Pannen in den U-Bahn-Schächten, und manche beschleicht schon das Gefühl, dass das System doch an seine Grenzen stößt angesichts der Massen, die Tag für Tag "öffentlich" in Singapur unterwegs sind.

Der Regierungschef strebt den Spitzenplatz an

Der Frust lässt auch den Premierminister im Stadtstaat nicht kalt. Zwar versicherte Regierungschef Lee Hsien Loong erst im November, das singapurische Transportsystem sei nach wie vor "erstklassig", doch gab er auch zu: "Wir sind nicht die Besten. Hongkong ist besser, Taipeh ist besser." Die Bürger müssten den Fachleuten jetzt etwas Zeit geben, bis alles wieder rundlaufe, unten in den Tunneln der U-Bahn. Der Premier bat um Geduld und versprach: "Wir werden besser werden."

Man sieht daran schon, wie wichtig es für einen Politiker dieses Staates ist, öffentlich Ehrgeiz zu bekunden und klarzumachen, dass die Regierung natürlich in die Weltspitze strebe, sei es in Transportfragen oder auch bei anderen Technologien. Singapur ist kein Staat, der sich gerne mit dem zweiten, dritten oder gar einem der hinteren Plätze abfindet.

Pannen statt Perfektion

Das liegt auch an den hohen Erwartungen, die die Bürger Singapurs in die Effizienz ihres Staates setzen. Man hat hier gelernt, auf manche individuelle Freiheit zu verzichten. Aber im Gegenzug muss der Staat dafür sorgen, dass ein reibungsloser Alltag möglich ist und der Staat die Entwicklungschancen für die multikulturelle Gemeinschaft auch ausschöpft. Das ist, wenn man so will, eines der ungeschriebenen Gesetze im singapurischen Gesellschaftsvertrag. Und eines der Fundamente für seine rasche Entwicklung seit der Unabhängigkeit.

Insofern ist das Streben nach Perfektion im Transportwesen kaum überraschend. Aber eben auch manchmal frustrierend. Vor allem Umstellungen in den Signalsystemen scheinen die Ingenieure derzeit schwer zu beschäftigen. Und die Kunden haben nicht vergessen, dass es einige größere Pannen und Unfälle in den vergangenen drei Jahren gegeben hat. Zwei Gleisarbeiter starben, als sie von einem Zug überrollt wurden. Bei einer Kollision gab es im Herbst mehr als 30 Verletzte. Und dann schockte auch der Vorfall vom 7. Oktober die Singapurer: Damals ging ein heftiger tropischer Regen an der Straße von Malakka nieder, was für sich genommen nichts Ungewöhnliches ist. Doch kurz darauf war plötzlich einer der U-Bahn-Tunnel überflutet, schlammiges Wasser schwappte teils hüfthoch im Untergrund.

Das Vertrauen ins Verkehrssystem schwindet

Mehr als 20 Stunden fiel der Betrieb aus. Und die Kunden konnten es nicht fassen. Wie war so etwas möglich in ihrem sonst so streng regulierten Stadtstaat? Bald kam heraus, dass Schlampereien und mangelnde Wartung der Pumpen schuld waren. Personal wurde gefeuert, von heute auf morgen aber lässt sich das angeknackste Vertrauen bei Millionen Pendlern nicht so einfach wiederherstellen. Zumal die Singapurer dazu tendieren, bei unerwarteten Störungen ihres Alltags recht empfindlich zu reagieren. Verkehrsexperte Christopher Tan von der lokalen Tageszeitung Straits Times stellte daher kürzlich fest, dass das Vertrauen der Leute in ihr Verkehrssystem nicht mehr so stark sei wie früher.

Fachleute debattieren seither auch über das, was Psychologen die "Kraft des Negativen" nennen: Einige wenige Pannen reichen demnach schon aus, um das Bewusstsein zu drehen und das generelle Vertrauen in ein ansonsten effizientes und gutes System zu erschüttern. Tan glaubt zwar, dass Singapur gerade dabei ist, "die Kurve zu kratzen", aber auch er sagt, dass die Verbesserungen Zeit brauchten.

Nun ist Singapur aber auch weitaus ehrgeiziger als viele andere Städte, wenn es um den Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes geht. In den vergangenen fünf Jahren hat der Staat das Schienennetz um 30 Prozent erweitert, bis 2030 soll das System so gut ausgebaut sein, dass mindestens acht von zehn Familien nicht mehr als zehn Minuten zu Fuß laufen müssen, um den nächsten Bahnhof zu erreichen.

Diese Pläne müssen schon deshalb gelingen, weil Singapur keinen weiteren Ausbau des individuellen Autoverkehrs möchte. Vor wenigen Wochen machte der Stadtstaat weltweit Schlagzeilen, weil er die Zahl der Autos gedeckelt hat. Seit dem 1. Februar können Fahrer eines Privatwagens nur noch eine Zulassung bekommen, wenn ein älteres Auto gleichzeitig aus dem Verkehr gezogen wird und das Zulassungszertifikat damit erneut auf den Markt kommt.

Singapur will die Fehler anderer Metropolen vermeiden

Während in den Jahren zuvor die Zahl der Autos immer noch leicht angestiegen war, hat der Staat nun Nullwachstum im privaten Autoverkehr verordnet. Die Fahrzeugdichte im Stadtstaat ist bereits deutlich geringer als anderswo, auf zehn Bewohner kommt hier nur ein Privatwagen. Autofahren ist eine äußerst kostspielige Angelegenheit, Angehörige der Mittelschicht können sich in der Regel kein eigenes Auto leisten, weil schon der Erwerb einer zehnjährigen Zulassung für das Fahrzeug mehrere Zehntausend Euro kostet.

Die Preise schwanken, weil die Papiere im Internet jeweils versteigert werden, Angebot und Nachfrage regeln den Preis. Aber die Gesamtzahl der Autos ist nach oben begrenzt. Keinesfalls will Singapur erleben, was andere asiatische Großstädte seit Jahrzehnten durchmachen, weil sie den Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes vernachlässigten: Jakarta oder Manila sind mahnende Beispiele, sie leiden am chronischen Verkehrsinfarkt. Geschäftsleute klagen, dass sie dort kaum mehr als zwei Termine an verschiedenen Orten schaffen, weil sie ständig im Stau stehen. So bremst in diesen Städten das Chaos auf den Straßen die Wirtschaft aus.

Fahrerlose Busse ab 2022

Wenn es eine Lebenserfahrung gibt, die Singapurs vorausschauende Verkehrsplanung über die Jahrzehnte hin geprägt hat, dann war es vermutlich die Erkenntnis, wie kostbar der eigene Raum doch ist. Singapur weiß als kleine Insel um seine geografischen Grenzen. Da ist es schon existenziell, den Verkehr für alle zu optimieren.

Und vom Jahr 2022 an hat Singapur noch einen ganz anderen Plan: In drei Testgebieten der Stadt sollen dann fahrerlose Busse Pendler befördern. Transportminister Khaw Boon Wan sieht darin eine besondere Chance, auch die Wege für ältere Menschen und Familien mit Kindern zu erleichtern. Die Technologie sei dabei gar nicht die größte Herausforderung, erklärte der Minister bei der Vorstellung der Pläne im November. Vielmehr gehe es darum: "Wie können wir sie sicher in unsere lebende Umgebung integrieren?"

Auch die Kolumnistin Lynette Cheah beschäftigt sich mit der Vision sogenannter autonomer Fahrzeuge und kommt auf den menschlichen Faktor zu sprechen: "Werden die Menschen der Technik trauen?" Es dürften wohl noch einige Tests, Planungen und städtische Umbauten nötig sein, bis singapurische Familien glücklich und sorglos in die viel beschworenen "Robo-Taxis" der Zukunft steigen werden.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen unter http://www.sueddeutsche.de/nahverkehr

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