SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Seoul hat das längste und beste ÖPNV-System der Welt

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Fast jeder Passagier blickt auf das Handy. Kein Wunder: In Seoul gibt es im gesamten ÖPNV-Netz schnelles mobiles Internet. (Foto: picture alliance / AP Photo)

Nicht nur CNN hält das Nahverkehrsnetz der Hauptstadt Südkoreas für vorbildlich. Und das, obwohl es in Rekordzeit entstand - unter extremen Bedingungen.

Von Christoph Neidhart

In den meisten Ländern herrscht Rechtsverkehr; in Japan und einigen anderen Ländern fahren die Autos dagegen links. Auch die Züge fahren mehrheitlich rechts, in Großbritannien, Japan (und in der Schweiz) jedoch links. Nur in Seoul fährt die Linie 1 der Metro links, die übrigen Linien rechts. Die S-Bahnen und Fernzüge wiederum links. Darin spiegelt sich Südkoreas Geschichte.

Von 1910 bis 1945 war Korea eine Kolonie Japans, also fuhr man links. Nach der Kapitulation Japans gingen beide Teile der von den Siegermächten - im Norden die Sowjetunion, im Süden die USA - geteilten Halbinsel auf der Straße zum Rechtsverkehr über. Südkoreas Fernzüge aber, deren Netz noch die Japaner gebaut hatten, blieben beim Linksverkehr. Als Seoul 1971 mit japanischer Hilfe die erste Linie seiner Metro zu planen begann, sollte sie - nach dem Vorbild Tokios - von Anfang an ins regionale Zugnetz integriert werden. Also blieb man beim Linksverkehr.

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Für die meisten Ingenieure, die ihren Beruf noch unter den Japanern gelernt hatten, war das ohnehin selbstverständlich. Zumal ihr oberster Chef, der damalige Transportminister Paik Sun-yup, im Krieg in der kaiserlichen japanischen Armee eine Offizierskarriere gemacht hatte. Die nächsten Metro-Linien entstanden dann mit Technik aus Europa. Sie fahren rechts, wie auch jene, die Südkoreas Industrie ohne fremde Hilfe gebaut hat. Heute befördern in Seoul neun Linien auf 331 Kilometern jährlich 2,6 Milliarden Passagiere, im Schnitt täglich sieben Millionen. Zum Vergleich: Busse und Bahnen im Münchner Verkehrsverbund befördern im Jahr mehr als 700 Millionen Leute.

Seoul ist jedoch nur der Kern des fünftgrößten urbanen Ballungsraums der Welt. In Groß-Seoul wohnen 25,5 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte aller Südkoreaner. Dieser Großraum wird von 21 U- und S-Bahnlinien mit 1100 Streckenkilometern bedient - und das Netz wird weiter ausgebaut. Die Feinverteilung besorgen Busse; ihre Linien tragen vierstellige Nummern, so zahlreich sind sie.

Der ÖPNV bietet alles, was man sich wünscht

Der US-Fernsehsender CNN hat Seouls Nahverkehrsnetz mal als das längste und beste der Welt bezeichnet. Die Züge sind sauber, pünktlich, sie fahren in kurzen Abständen bis etwa ein Uhr früh. Das Ticketsystem ist einheitlich, obwohl mehrere unterschiedliche Unternehmen die Linien betreiben. Und das bei moderaten Preisen: Der Grundfahrpreis beträgt 1250 Won, etwa einen Euro. Mit der "T-Money"-Karte, einer elektronischen Zahlkarte mit integriertem Chip, kommt man durch den ganz Nordwesten Südkoreas - bis an die demilitarisierte Zone, die beide Koreas trennt. In den Stationen ist von Bildschirmen abzulesen, wo der nächste Zug ist. Jeweils der letzte Wagen bietet Platz für Fahrräder.

Auch die U-Bahnhöfe sind geräumig, in vielen gibt es Getränkeautomaten und kleine Läden. Die Toiletten sind blitzsauber, oft mit Blumen oder Amateur-Kunst dekoriert, in manchen gibt es Sitzplätze, auf denen man sich ausruhen kann. Die meisten Bahnsteige sind mit Schranken gesichert, die sich erst öffnen, wenn der Zug angehalten hat. Über das ganze Netz werden Handy- und WLAN-Verbindung angeboten, mit Antennen in fast jedem Wagen. Viele Leute sehen in der Metro auf ihrem Handy fern. Es gibt Apps, die Fahrrouten, -zeiten sowie -preise errechnen und in Echtzeit über Störungen informieren. Bis zum Jahr 2019 sollen überall High-Speed-Verbindungen umsonst angeboten werden.

Dennoch ist im erst in den letzten Jahrzehnten reich gewordenen Südkorea das Auto ein Statussymbol. Deshalb verfügt Seoul auch über ein leistungsfähiges Straßennetz (das neuerdings um Radwege und -Spuren erweitert wird). Dennoch ist man in den Hauptverkehrszeiten mit der Metro oft schneller, allenfalls kombiniert mit einem Taxi für die letzte Meile. Die Taxis sind preiswert - und fahren mehrere Fahrgäste kurze Strecken zusammen, zuweilen sogar billiger als die Metro (Leuten, die kein Koreanisch sprechen, bietet der Fahrer per Smartphone sogar einen Übersetzungsservice an). So versucht das Land zu vermeiden, dass es im Zuge der Industrialisierung im (Auto-)Verkehr erstickt.

Denn noch in den Sechzigerjahren war Südkorea eines der ärmsten Länder der Welt. Seoul war am Ende des Koreakriegs 1953 völlig zerstört, das korrupte Regime hing am Geldtropf der USA. Der internationale Währungsfonds bedauerte, das Land habe keine Chance, sich zu sanieren, zumal ihm jegliche Rohstoffe fehlten. Das änderte sich von 1963 an mit der Militärdiktatur von Park Chung-hee. Er rang den Südkoreanern mit Repression, Zwang zu harter Arbeit und aufgenötigten Entbehrungen die schnellste Industrialisierung der Geschichte ab. Die Südkoreaner stampften neue Industrien und neue Städte aus dem Boden. Letzteres tun sie heute noch: Songdo zum Beispiel, hochgezogen in einem einzigen Jahrzehnt auf Land, das dem Wattenmeer abgetrotzt wurde, nennt sich die "smarteste der smarten Städte". Hier wurden der integrierte Nahverkehr und die Radwege von Anfang an mitgeplant.

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Vor den Olympischen Sommerspielen 1988 trieb der damalige Diktator Chun Doo-hwan den Metro-Bau besonders heftig voran. Unter Kriegsrecht, mit dem der Ex-General die Demokratiebewegung mit brutaler Polizeigewalt unterdrückte, eröffnete Seoul binnen eines Jahres drei Metro-Linien. Der U-Bahn-Boss, auch er ein ehemaliger General, prahlte 1984 in der New York Times, 105 Kilometer U-Bahnbau in einem Jahr, das habe noch nie eine Stadt geschafft. "Aber wir Koreaner können das." Die Zeitung konstatierte damals: "Viele Städte bauen U-Bahnen, Seoul macht daraus einen Kreuzzug."

"Husch-husch" auf Kosten der Sorgfalt

Chuns Diktatur brach 1987 zusammen, doch das Ausbau-Tempo des Nahverkehrs blieb. Mitte der Neunzigerjahre wurden erneut binnen eines Jahres drei Linien eröffnet. Die Koreaner sind bekannt für "pali-pali", übersetzt etwa "husch-husch". Alles muss schnell gehen, zuweilen auch auf Kosten der Sorgfalt. Nicht nur während der Zeit des Kriegsrechts, auch später kam es beim U-Bahnbau öfter zu Unfällen, über die man einfach hinwegging.

Nicht nur "pali-pali", auch die große Geste ist den Koreanern wichtig. Weite Teile von Seoul, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren gebaut wurden, sind bereits wieder abgerissen worden, um postmodernen Glas- und Stahltürmen zu weichen. Eine 1976 eröffnete erhöhte Stadtautobahn wurde nach nur 27 Jahren geschleift, da sie das Stadtbild verunstaltete, vor allem das Flüsschen Cheonggyecheon, das gleichzeitig mit dem Abriss der Hochstraßen für fast eine Milliarde Euro saniert wurde.

Bessere Verkehrsanbindung der Provinz

Doch nicht nur die Hauptstadt profitiert von Investitionen. Südkorea leidet unter Landflucht, die Jungen wollen alle nach Seoul. Diese Landflucht wolle sie mit besseren Verkehrsanbindung der Provinz bremsen, erklärt die Regierung - und treibt den Ausbau von Bahn- und Autobahnnetz voran. Zwei Landprovinzen, die hundert Kilometer von Seoul entfernt liegen, sind über verlängerte U-Bahnlinien bereits ins Metronetz integriert. In knapp zwei Jahrzehnten hat Südkorea ein Superschnellzugnetz errichtet - die vierte Linie nach Pyeongchang und Gangneung, die Gegend, in der im Februar die Olympischen Winterspiele stattfanden, wurde im Dezember eröffnet.

Seoul gibt dem Begriff "Nahverkehr" eine neue Bedeutung. Als 2012 Yeosu, die abgelegenen Hafenstadt an Koreas Südküste, die Weltausstellung veranstaltete und dafür ans Superschnellzug-Netz angebunden wurde, zeichnete eine Regierungssprecherin folgende Zukunftsvision: Künftig, so sagte sie, solle man aus allen Teilen des Landes nach Seoul pendeln können. Oder abends in die Hauptstadt ins Kino. Dabei ist Südkorea etwa so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Doch die ausgezeichneten Verbindungen bewirken eher das Gegenteil: Immer mehr Südkoreaner ziehen in den Großraum Seoul oder bleiben gleich dort wohnen, selbst wenn sie in der Provinz arbeiten. Und so wächst auch die Zahl derjenigen, die von der Mega-Metropole aus in die Provinzen pendeln.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr

© SZ vom 17.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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