Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie Nahverkehr weltweit:New Yorks Nahverkehr steht kurz vor dem Kollaps

Die U-Bahn: alt, dreckig und marode. Die Busse: Stehen stets im Stau und sind unbeliebt. Statt die Probleme konsequent anzugehen, wird überall geflickt und gewerkelt.

Von Johanna Bruckner, New York

Die New Yorker U-Bahn ist kein Ort zum Kontakteknüpfen. Sie ähnelt eher einer mobilen Zweck-WG: Nebeneinanderher leben erwünscht. Eine amerikanische Job-Plattform warb in der U-Bahn mit folgendem Slogan: "Vielleicht sitzt neben Ihnen gerade die Person, die Ihre Karriere entscheidend beeinflussen wird - wir bringen Sie zusammen." Soll heißen: Nicht ansprechen, dafür gibt es eine App. Hier sitzen die Menschen zwar Schulter an Schulter, aber gedanklich ist jeder auf seiner eigenen einsamen Insel. Viele hören Musik. Manche wischen sich durch die Facebook-Fotoalben von Freunden (oder Feinden). Und einige wenige nutzen den Commute zur Körperpflege. Obwohl es entsprechende Verbotsschilder gibt, auf denen zur Abschreckung abgeknipste Fingernägel durchs Abteil fliegen.

Ganz selten wird die U-Bahn jedoch auch zum Ort der Verständigung. Als im Frühjahr dieses Jahres ein Abteil der Linie 1 mit antisemitischen Sprüchen beschmiert war, nahmen sich Passagiere kurzerhand selbst der Sache an - mit Taschentüchern und Handdesinfektionsmittel. Fast jeder New Yorker Pendler hat immer ein kleines Fläschchen dabei. Das soll nicht nur gegen menschenverachtenden Schmutz an der Wand helfen, sondern auch gegen Bakterienablagerungen an den Haltestangen. Vor denen fürchten sich viele Pendler mindestens so sehr wie vor Verspätungen. Wissenschaftler fanden schon Partikel des Milzbranderregers und der Beulenpest an den Haltestangen.

In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Verzögerungen im New Yorker U-Bahn-Verkehr verdoppelt. Das liegt vor allem am desolaten Zustand von Gleisbett und Zügen. Der Status quo sei "nicht akzeptabel", musste im Sommer Joseph Lhota einräumen, Chef der Metropolitan Transportation Authority, kurz: MTA. Die Behörde ist verantwortlich für den öffentlichen Nahverkehr in einer der modernsten Metropolen der Welt. Gerecht wird sie dem damit verbundenen Anspruch an das U-Bahn-System nicht. Viele Gleise sind nicht erst seit Hurrikan Sandy 2012 marode. Doch während ihr Zustand im Dunkel der Tunnel weitgehend verborgen bleibt, ist der voranschreitende Verfall beim Fuhrpark für alle deutlich sichtbar. Zum Beispiel auf der Linie C, die Manhattan und Brooklyn verbindet: Die Züge sind mehr als 50 Jahre alt. Damit gehören sie zu den ältesten, die weltweit im täglichen Einsatz sind.

Die sogenannten Brightliner waren einst der Stolz der Stadt. Es waren die ersten Züge aus rostfreiem Stahl, die in Massenproduktion für den New Yorker Nahverkehr gefertigt wurden. Heute allerdings merkt man den Waggons ihr Alter an. Komfort und Fahrgefühl lassen zu wünschen übrig, an den Waggonseiten entlang ziehen sich Sitzschalen aus hellblauem Hartplastik. Deren Anzahl spricht dafür, dass die Planer des Brightliner nie an jene Menschenmassen dachten, die heute zu Spitzenzeiten in die Wagen drängen. Jede andere Stadt hätte diese abgekämpften Arbeitnehmer längst in den verdienten Ruhestand geschickt. Doch in New York fahren die Brightliner weiter - solange sie eben fahren. Und die Passagiere werden kräftig durchgeschüttelt. Mancher an Bord fühlt sich an eine Fahrt in einer Rummelattraktion erinnert: Jedes ruckartige Anfahren, jedes Holpern über Kurven mit bedenklichen Neigungen, jedes abrupte Abbremsen zeigt, wie immens der Reparaturbedarf am Gleisbett mittlerweile ist.

Ein System, das von Grund auf saniert werden muss

Tatsächlich ist "under construction" der Dauerzustand auf vielen Strecken im New Yorker Nahverkehr - und zugleich Teil des Problems. Vor allem am Wochenende wird geflickt und gewerkelt. Manchmal bleiben nur einzelne U-Bahn-Stationen geschlossen, oft gehen jedoch ganze Linien zumindest abschnittsweise vom Netz. Wer etwa an einem Wochenende von der Upper West Side zum Brunch ins East Village oder zum Shopping von Brooklyn nach Manhattan fahren will, der kann locker länger als eine Stunde unterwegs sein. Und all das, um ein System am Leben zu erhalten, das laut New York Times "am Rande eines Kollapses" steht. Das dringend von Grund auf saniert, nach Ansicht vieler vielleicht sogar völlig neu konzipiert gehört.

Das zeige sich zum Beispiel an den Zügen, sagt Richard Barone, Vize-Präsident der Regional Plan Association, einer gemeinnützigen Organisation für Stadterhaltung. Auch andere Städte hätten in ihrem Fuhrpark alte und neue Loks und Waggons. Doch sorgten die Städte dafür, dass die Züge aufgearbeitet würden. Dort würden im Laufe der Zeit sämtliche Teile ausgetauscht, die Fahrzeuge so Stück für Stück quasi neu aufgebaut. Die MTA ersetze dagegen immer nur das Teil, das gerade den Dienst aufgegeben habe, sagt Barone.

Um all die Probleme zu lösen, um neue Züge zu kaufen und die maroden Strecken zu sanieren, hat die MTA ihr Budget jüngst auf 32 Milliarden US-Dollar aufgestockt. Bereits 2012 hatte das kanadische Unternehmen Bombardier eine Ausschreibung für 300 neue Züge gewonnen. Doch immer wieder gab es Probleme in der Produktion, mal waren die Schweißverbindungen mangelhaft, mal streikte die Radanlage. Bis heute hat Bombardier gerade einmal zehn Probefahrzeuge geliefert. Frühestens 2019, lauten aktuelle Schätzungen, werden die Züge auf die Schienen kommen. Im selben Jahr droht gleich das nächste große Problem: Die stark frequentierte Linie L, die Pendler von Rockaway Park ganz im Osten Brooklyns über Williamsburg bis an die 8th Avenue in Manhattan bringt, wird abschnittsweise dichtgemacht. Schuld daran ist wiederum Hurrikan Sandy.

Während des Sturms wurde der Canarsie-Tunnel unter dem East River mit Salzwasser geflutet. Für die nötigen Reparaturen hat die MTA nun 15 Monate angesetzt, Start des gefürchteten Shutdowns ist im April 2019. Etwa 250 000 Menschen nutzen die Linie L an einem durchschnittlichen Werktag, um von Brooklyn nach Manhattan zu kommen und umgekehrt. Andere U-Bahn-Linien, Busse und Fähren sollen die Menschenmassen auffangen. Das Fährnetz wurde extra ausgebaut. Ob das reicht, um ein Pendler-Chaos zu verhindern? Viele New Yorker sind da skeptisch.

Das könnte auch damit zusammenhängen, dass Busfahren in New York ein miserables Image hat. Die U-Bahn mit all ihren Macken, die vielen Taxis, die Angebote von Fahrdiensten wie Uber oder Lyft - all das sind legitime Verkehrsmittel, um nach einem Dinner bei Freunden oder einem Besuch im Theater den Heimweg anzutreten. Aber der Bus? Der sorgt bei vielen New Yorkern für verständnisloses Stirnrunzeln.

Busfahrer als "Snow Fighter"

Dabei war die Busflotte in der Vergangenheit schon mehrfach der Retter in der Not: Im Winter 1961, als die städtischen Schneepflüge mit den kalten Massen überfordert waren, sprangen New Yorks Busfahrer als "Snow Fighter" ein. Und in den Tagen nach dem verheerenden Hurrikan Sandy brachten Busse die Menschen von Brooklyn nach Manhattan und zurück - die U-Bahn-Tunnel unter dem East River waren überflutet.

Mehr als einen kurzfristigen Sympathiebonus haben diese Heldentaten aber nicht gebracht. Der Journalist Jonathan Soma beschreibt es so: "Busse können einfach nicht gewinnen, weil Busfahren hundert Mal komplizierter ist als U-Bahnfahren. Das Streckennetz ist so unübersichtlich wie seinerzeit das Byzantinische Reich, die Fahrpläne sind verwirrend, und wenn es darum geht, zur Arbeit in ein anderes Viertel zu fahren, sind sie nicht gerade der strahlende Gewinner."

Das Durchschnittstempo stieg - von sieben auf zwölf km/h

Viele New Yorker nehmen ihre Busse vor allem so wahr: im Stau steckend. Bis vor einigen Jahren betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit eines New Yorker Busses etwa sieben Kilometer in der Stunde. Zum Vergleich: Ein Spaziergänger kommt beim Überqueren einer Ampel auf etwa fünf Stundenkilometer. Seit 2002 nutzen jedes Jahr weniger New Yorker den Bus. Im Jahr 2015 verbuchte die U-Bahn der Metropole 1,7 Milliarden Fahrgäste, auf die mehr als 5700 Busse, die täglich unterwegs sind, kam hingegen nicht einmal die Hälfte.

Und das, obwohl die MTA am Geschwindigkeitsproblem arbeitet: Seit 2008 gibt es Express-Busse (den sogenannten "Select Bus Service"), die auf Streckenabschnitten mit hohem Verkehrsaufkommen eigene Fahrbahnen haben, um an den Staus vorbeirauschen zu können. Davon profitiert vor allem die Statistik: Mittlerweile beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Busses knapp zwölf Kilometer pro Stunde. Damit liegt New York im Vergleich mit anderen US-Großstädten aber immer noch auf dem letzten Platz.

Den New Yorkern hilft da nur Gleichmut. Die Bewohner der Metropole sind unerschütterlich, ob es nun um stadtplanerischen Murks geht oder regelmäßige Wartezeiten am Gleis oder an der Bushaltestelle. So war die Freude tatsächlich groß, als im Januar dieses Jahres die ersten drei Stopps der neuen U-Bahn-Strecke entlang der Second Avenue eingeweiht wurden. Und das, obwohl es erste Überlegungen für einen Ausbau des U-Bahn-Netzes schon im Jahr 1919 gab - und eine Schienenmeile am Ende im Durchschnitt unglaubliche 2,23 Milliarden Dollar verschlungen hatte.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen finden sich unter www.sz.de/nahverkehr.

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Quelle:
SZ vom 03.02.2018/harl
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