SZ-Serie Nahverkehr weltweit:In Peking sind alle Wege verstopft

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Mit Pekings U-Bahnen werden pro Jahr 3,8 Milliarden Fahrten absolviert. Entsprechend enorm ist das Gedränge in den Zügen. (Foto: AP)

Die U-Bahnen sind immer überfüllt, die Straßen sowieso. Also soll Peking wieder eine Stadt der Radfahrer werden. Doch Millionen Leihräder verursachen Probleme, die längt überwunden schienen.

Von Christoph Giesen

Zwei Linien, 53 Kilometer Streckennetz, 41 Bahnhöfe und ein großes Rätsel: Gibt es diese U-Bahn wirklich oder ist sie ein Potemkinsches Dorf unter der Erde? Eine Fantasie der Propaganda? Jahrelang stellten sich Diplomaten in Peking genau diese Frage. Denn: Eröffnet wurde die U-Bahn just 1969 auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution, China war damals mindestens so abgeschottet wie Nordkorea heute. Und die U-Bahn? Mindestens ein Staatsgeheimnis. Kaum ein Ausländer bekam die Züge damals zu sehen. Benutzen durften sie in den ersten Jahren ausschließlich treu ergebene Beamte. Erst nachdem Staatsgründer Mao Zedong 1976 starb und die Kulturrevolution endete, durfte auch die normale Bevölkerung mit der U-Bahn fahren. Bis 2002 blieb es bei den zwei Linien. Seitdem wird gebuddelt und gebohrt.

Auf eine Länge von 600 Kilometern ist das Schienennetz inzwischen angewachsen. Ein, zwei neue Linien pro Jahr, das ist die Taktzahl, an die sich die Pekinger gewöhnt haben. 3,8 Milliarden Fahrten absolvieren sie pro Jahr - Weltrekord. In den Hauptverkehrszeiten herrscht in vielen Stationen ein Gedränge wie nach einem Fußballspiel, wenn die Zuschauer alle auf einmal aus dem Stadion strömen. An einen Sitzplatz ist eigentlich so gut wie nie zu denken.

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Und dennoch könnte diese Stadt etliche weitere Linien vertragen. Noch immer gibt es in Peking blinde Flecken, Ortsteile, die nicht ans Netz angeschlossen sind. Peking hat schließlich eine gewaltige Ausdehnung, von Ost nach West sind es mehr als 70 Kilometer, das Verwaltungsgebiet umfasst eine Fläche, die so groß ist wie Thüringen.

Auf den Straßen der chinesischen Hauptstadt sieht es nicht besser aus. Vor allem auf den Autobahnen, die Peking ringförmig umschließen, lähmen Staus den Verkehr. Mit künstlicher Intelligenz soll der Autofluss in Zukunft gesteuert werden. Milliarden wollen die Stadtplaner dafür in die Hand nehmen. Bis es so weit ist, wird reguliert.

Fünfmal im Jahr gibt es eine Kennzeichen-Lotterie

Um nicht komplett im Chaos zu ersticken, haben die Behörden schon vor Jahren entschieden, die Zahl der Neuzulassungen in Peking zu begrenzen. Fünfmal im Jahr werden daher neue Nummernschilder verlost - insgesamt 40 000 Kennzeichen. Zur jüngsten Ziehung im April gingen knapp 2,8 Millionen Anträge ein. Auch wer noch kein Auto hat, meldet sich vorsorglich an, ja selbst Leute ohne Führerschein versuchen ihr Glück, im Fall der Fälle kann man den immer noch machen. Nur etwa jeder 350. Bewerber bekam eine der begehrten Peking-Plaketten.

Ein wenig besser ist die Lage für Elektroautos. 60 000 Kennzeichen haben die Behörden in diesem Jahr vergeben. 210 000 Pekinger hatten sich beworben. Wer leer ausging und trotzdem fahren möchte, muss ohne Hauptstadt-Nummernschild jede Woche eine Ausnahmegenehmigung bei der Polizei beantragen. Und selbst mit diesen Papieren darf man während der Stoßzeiten morgens und abends nicht auf die Straße, manche Hauptverkehrsrouten sind gar von sechs bis 22 Uhr gesperrt.

Ganze Leihrad-Fuhrparks an belebten Kreuzungen

China war lange Zeit das Land der Radfahrer. Fast jeder radelte. "Phönix" oder "Fliegende Taube", so hießen die Modelle aus staatlicher Produktion. Sie hatten Nummernschilder und, ganz wichtig: eine mächtige Klingel. Wer noch in den Neunzigerjahren in China eine Straße überqueren wollte, musste irgendwie den Radlerstrom durchbrechen. Das kommt nun alles wieder. Auf den Bürgersteigen der Metropolen tobt ein Start-up-Krieg. Alle paar Meter stehen in Peking jetzt Leihfahrräder. An belebten Kreuzungen sind es oft ganze Fuhrparks. 100 Stück und mehr sind beileibe keine Seltenheit. Als Fußgänger muss man im Zickzack laufen.

Begonnen hat alles vor gut anderthalb Jahren. Erst waren da die gelben Räder, dann die silbernen, auf einmal blaue, allmählich kann man fast den Überblick verlieren, so viele Anbieter gibt es. Sie heißen Ofo, Mobike oder Bluegogo. Ende 2016 rühmten sich die Pioniere von Ofo, gut 50 000 Fahrräder in Peking aufgestellt zu haben. Ein Bruchteil von dem, was heute in der Hauptstadt unterwegs ist. 2,35 Millionen Leihfahrräder seien aktuell in Peking im Einsatz, vermeldete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua.

Um den Massen an abgestellten Fahrrädern Herr zu werden, haben die Behörden damit begonnen, Parkverbote für bestimmte Straßen auszusprechen. Herrenlose Räder landen auf Bike-Friedhöfen außerhalb der Stadt. Aber auch die Start-ups selbst reagieren. Mit Lastwagen sammeln Arbeiter in Peking überschüssige Fahrräder ein und verteilen sie über das Stadtgebiet.

Genutzt werden die Räder vor allem für die letzten ein, zwei Kilometer. Wenn die Taxis und Busse mal wieder im Stau stecken und die nächste U-Bahn-Station nicht in Sicht ist. In keiner Stadt der Welt wird länger gependelt als in Peking. Derzeit sind es jeden Tag durchschnittlich 105 Minuten. Und die U-Bahnen sind so voll, dass man unmöglich sein eigenes Fahrrad aus einem der Außenbezirke ins Zentrum mitnehmen könnte.

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Die Registrierung erfolgt online, dazu knipst man ein Selfie mit aufgeschlagenem Pass und zahlt eine Kaution von einigen Hundert Yuan. Mit dem Smartphone scannt man dann einen Code am Schutzblech ein und bekommt die Nummer für das Zahlenschloss übermittelt.

Bezahlt wird ausschließlich bargeldlos über die weit verbreiteten Dienste Alipay oder Wechat. Eine Stunde Fahrradfahren kostet etwa einen Yuan, umgerechnet 13 Cent. Derzeit zahlt man oft nichts. Ständig bekommt man Gutschriften, so erbittert ist der Kampf. Geld scheint genug vorhanden zu sein, seitdem sich finanzkräftige Investoren eingekauft haben. Zum Beispiel der iPhone-Hersteller Foxconn oder der Internetkonzern Tencent. Letzterer war auch an der großen Start-up-Schlacht 2016 beteiligt. Damals duellierten sich die beiden Fahrdienstvermittler Didi und Uber. Die Preise waren lächerlich gering. Am Ende gab Uber sich geschlagen - eine Milliarde Dollar war futsch.

Mit dem Panzer in die Marketingpanne

Die großen Technologiefirmen interessieren sich nicht sonderlich für Fahrräder. Ihnen geht es um Daten: Von wo bis wo ist man gefahren? Wie lange sitzt man auf dem Sattel? Wie oft nimmt man dieselbe Route? Stellt man sein Rad immer korrekt ab oder auch mal im Halteverbot? Informationen, die in Werbung, aber auch in die Bewertung der eigenen Bonität münden. Alles wird gesammelt, archiviert und analysiert. Datenschutz ist in China kein Thema. Die Unternehmen scheitern aus anderen Gründen.

Der Anfang vom Ende von Bluegogo war eine Marketingpanne. Im vergangenen Juni änderte das Unternehmen das Symbol in der Buchungsapp. Ein Miniatur-Panzer zeigte an, wo das nächste freie Fahrrad steht. Klar, der Start-up-Krieg! Die Aktion hatte allerdings einen Schönheitsfehler: Just zum Zeitpunkt der Umstellung jährte sich das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Im Netz machte rasch ein Screenshot von der Chang'an Avenue die Runde, jener zehnspurigen Magistrale, auf der sich am 4. Juni 1989 die echten Panzer reihten und den Protest Tausender Studenten niederwalzten. Und jetzt jedes Fahrrad ein Panzer.

Was in Europa oder den Vereinigten Staaten vielleicht als geniale Guerilla-Aktion durchginge, war der kommerzielle Suizid für Bluegogo. Das Blutbad im Herzen Pekings wird in China totgeschwiegen. In den Schulen, in den Zeitungen, selbst in den Familien. Niemand traute sich noch, bei Bluegogo zu investieren. Der Firmengründer schrieb zum Abschied, dass sein Unternehmen "im Juni verflucht" worden sei - das Massaker erwähnte er natürlich nicht.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr

© SZ vom 26.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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